Die Reliquie von Buchhorn
Wendelgard fast vier Jahre hier vertrauert hatte, nahm ihm den Atem.
Der Abt warf ihm einen scharfen Blick zu und fuhr fort: »Viele mögen diese Frau eine Heilige nennen, aber sie ist nur ein Mensch. Vergesst das nicht.«
Udalrich wandte sich heftig um. »Ich frage mich, warum Ihr das so betont. Stört es Euch, dass diese Frauen auf Salomos Wunsch hin hier ihre Klausen eingerichtet haben?«
»Wenn Ihr so wollt, ja, es stört mich. Frauen gehören nicht in ein Männerkloster. Das ist gegen Gottes Ordnung.«
Der Abt sprach weiter, aber Udalrich hörte ihm nicht mehr zu. Vor der dunklen Mauer erkannte er eine Frauengestalt, die vorgebeugt auf einem Schemel saß. Das Sonnenlicht spielte mit dem Gold ihrer Haare, die unter dem weißen Schleier hervorlugten. Er beschleunigte seine Schritte, ohne darauf zu achten, ob der Abt ihm folgte. Gleichzeitig bemerkte die Frau ihn. Schwerfällig erhob sie sich und legte die Hand auf den gewölbten Bauch.
»Wendelgard«, rief er und wollte sie in die Arme nehmen, aber sie schob ihn sanft von sich. Ihr Gesicht war ernst, und ohne ihre gewohnte Lebhaftigkeit war ihr anzusehen, dass sie mit ihren dreißig Jahren keine junge Frau mehr war. »Wendelgard?«, wiederholte er mit fragendem Unterton.
Die Gräfin von Buchhorn lächelte ihn an, dann verbeugte sie sich respektvoll vor dem Abt, ehe sie sich dem winzigen Fenster zuwandte, das in die Mauer gehauen war. »Ehrwürdige Wiborada«, begann sie mit scheuer Stimme, »das ist mein Gemahl, Udalrich, Graf von Buchhorn. Udalrich, bitte begrüße meine geistige Mutter und Leiterin, Wiborada.«
Der Graf stellte sich neben seine Frau und wäre beinahe zurückgeprallt. Aus dem schmalen Fensterschlitz schlug ihm ein unmenschlicher Gestank von Urin und Schweiß entgegen. Er warf seiner Frau einen raschen Seitenblick zu, doch in ihrem Gesicht erkannte er keinen Ekel, nur ein sanftes, fast entrücktes Leuchten. Widerwillig trat er näher und versuchte, die Züge unter dem fleckigen Schleier auszumachen. Die alte Frau war bis auf die Knochen abgemagert und hatte alle Attribute von Weiblichkeit lange verloren Ihre Augen jedoch waren scharf und klug und sehr durchdringend.
»Ihr seid also der Mann, der unsere Wendelgard ins Leben zurückgerufen hat.« Ehe Udalrich die richtigen Worte fand, wandte Wiborada sich dem Abt zu. Ein Lächeln verzerrte ihren Mund. »Der Rotfuchs hat den Marder also aus seinem Bau gescheucht. Wie kann ich Euch dienlich sein?«
Im Abt arbeitete es. Er trat an das Fensterchen heran und stützte die Hand auf den verschneiten Sims. »Seid mir gegrüßt, ehrwürdige Wiborada«, sagte er steif. »Nicht ich bin es, der Eure Hilfe braucht, der Graf von Buchhorn hat um dieses Treffen gebeten. Allerdings weiß ich nicht, was wir damit erreichen. Ich werde keinen meiner Mönche das Kloster verlassen lassen, um einen Mörder zu suchen.« Sein Blick ging an den beiden Frauen vorbei ins Leere. Udalrich fiel auf, dass der Abt es vermied, der Klausnerin in die Augen zu blicken. Er selbst stellte fest, dass er zunehmend fasziniert von dem alters- und geschlechtslosen Gesicht jenseits der Mauer war. Leid und Entbehrung, aber auch tiefe Güte und Menschlichkeit hatten ihre Furchen in die dünne Haut gegraben. Er tastete nach der Hand seiner Frau und drückte sie sanft.
Obwohl sie die Geste unmöglich gesehen haben konnte, lächelte Wiborada. »Ihr habt meine Wendelgard glücklich gemacht, Graf von Buchhorn, und dafür danke ich Euch. Ich habe gezögert, sie gehen zu lassen, als Salomo mich darum bat, aber er hatte recht. Er war ein kluger Mann.«
Das Gesicht des Abtes verfärbte sich. »Auf Eckhard wartet keine Frau«, sagte er schroff.
»Aber eine Aufgabe!« Wiboradas Hand schoss vor und schloss sich um das Handgelenk des Abtes. Sekundenlang ruhten die mageren Hände dieser beiden asketischen Menschen untrennbar verflochten ineinander. »Stellt Euch nicht gegen Gottes Willen, Bruder Abt«, sagte sie mit heiserer Stimme. »Denkt daran, dass auch Ihr der Hilfe bedürftig seid.«
Der Abt befreite seine Hand und schob den Ärmel der Kutte darüber. Die Fingernägel der alten Frau hatten tiefe Rillen in seiner Haut hinterlassen.
Wiborada entblößte fleckige Zahnreihen. »Ich bin nur eine alte Frau, aber sogar zu mir ist die Kunde von einem jungen Mönch vom Neckar gedrungen, der hier Schutz und Hilfe erbeten hat. Habt Ihr ihm helfen können?«
Der Abt war so blass, dass sein Gesicht grau wirkte. »Gott wird Bruder Warmund schützen und
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