Die Reliquienjägerin: Historischer Roman (German Edition)
hatte, und wie gut, dass ihm der Tagesablauf im Kloster bekannt war. Die Mönche waren alle zur Komplet in der Kirche versammelt, der Zeitpunkt war ideal. Lautlos schlich Engelbert durch den Klostergarten. Von der Kirche fiel zuckendes Kerzenlicht über die von schmalen Wegen gerahmten Kräuterbeete und die Wiese mit den abgeernteten Obstbäumen. Das inbrünstige Gebet der Mönche war gedämpft zu vernehmen. Vor den Fenstern der Schreibstube des Abtes blieb Engelbert stehen und horchte. Bis auf das entfernte Murmeln aus der Kirche war alles still. Kein Lichtschimmer drang durch den Ritz zwischen den Fensterläden nach draußen.
Engelbert holte Luft, fuhr mit den Fingerspitzen zwischen die beiden Flügel und zog. Dem Himmel sei Dank! Der Riegel war nicht wieder vorgeschoben worden. Lautlos schwangen die Läden auf und gaben den Zugang zur Schreibstube frei. Gläserne Scheiben gab es nicht, nur die Kirche war damit ausgestattet. Vermutlich klemmte der Abt im Winter einen mit Pergament bespannten Rahmen in die Öffnung, um die Zugluft fernzuhalten. Doch auch der wäre für Engelbert kein Hindernis gewesen.
Aufmerksam spähte er ins Innere. Der Mond spendete genug Licht, um den Raum zu erhellen. Alles sah noch genauso aus wie bei seiner Unterredung mit dem Abt. Hoffentlich hatte dieser Betrüger die echte Reliquie noch nicht in den Schrein im Inneren der Kirche zurückgebracht! Das würde die Mission erheblich erschweren, vielleicht sogar unmöglich machen.
Engelbert zog sich hoch und sprang in den Raum. Noch einmal horchte er. Nichts. Auf Zehenspitzen schlich er auf das Pult zu. Unter der Schreibfläche war ein Fach, in dem die Schreibutensilien verstaut werden konnten. Es war verschlossen. Engelbert zog sein Messer aus der Scheide und schob es in den Schlitz unter der Schreibfläche. Behutsam tastete er nach dem Stift, der die Verriegelung sicherte. Verflucht! Er war widerspenstiger, als er gedacht hatte. Wenn das Schloss nicht bald nachgab, würde er das Pult mit Gewalt aufbrechen müssen. Das allerdings würde bedeuten, dass der Abt den »Diebstahl« zu schnell bemerken würde.
Endlich klickte es, und das Schloss gab nach. Langsam hob Engelbert die Klappe an. Ein triumphierendes Lächeln stahl sich auf seine Lippen. Zwischen Tintenfass und Lesestein lag das Fingerreliquiar.
Engelbert schlug das Kreuz. »Dank sei dir, Herr im Himmel«, murmelte er.
Flugs nahm er die echten Fingerknochen des heiligen Franziskus heraus, wickelte sie in ein dickes samtenes Tuch ein und verstaute sie in einem Reisereliquiar, das er sorgfältig an seinem Gürtel befestigte. Dann legte er die zwei Hühnerknochen in das Reliquiar des Abtes, klappte das Pult zu, kletterte aus dem Fenster und verschloss die Läden. Keinen Augenblick zu früh. Während er über die Obstwiese zurück zur Mauer eilte, sah er aus den Augenwinkeln, wie einer der Dominikanerbrüder beim Refektorium um die Ecke bog, ein riesiges Schlüsselbund in der Hand. Bestimmt überprüfte er, ob sämtliche Tore und Pforten gut verschlossen waren. Der offenstehende Fensterladen wäre ihm sicherlich aufgefallen.
Wenig später verließ Engelbert die Stadt Nürnberg durch eine kleine Pforte im Laufer Tor. Der Torwärter hatte sich mit ein paar Hellern zufriedengegeben und ihm wortlos geöffnet. Engelbert atmete die kalte Nachtluft ein. Nach seinem unerbetenen Besuch im Kloster hatte er nur kurz an die Hintertür eines Mannes geklopft, der eine Garküche im Südteil der Stadt betrieb und gelegentlich Botendienste für Engelbert übernahm, um sein Bündel abzuholen und sich ein wenig Verpflegung aushändigen zu lassen. Da er nicht wusste, wie lange der Abt brauchen würde, bis er den Diebstahl entdeckte, war es ihm sicherer erschienen, unverzüglich so viele Meilen wie möglich zwischen sich und die Stadt zu bringen.
Immerhin war seine Mission ein voller Erfolg gewesen. Nun galt es, sich einem Händlerzug anzuschließen und die kostbare Beute so bald wie möglich bei seinem Herrn in Prag abzuliefern. Schade nur, dass er nicht zugegen sein würde, wenn der ehrenwerte Abt Ambrosius den päpstlichen Legaten erklären musste, warum er Hühnerknochen als heilige Reliquien ausgab!
***
Rebekka lehnte sich mit dem Rücken gegen das Weidengeflecht des Käfigs und schloss die Augen. Sie konzentrierte all ihre Gedanken auf die Wachstafel, die der Vater ihr am Abend zuvor gezeigt hatte. Einen Namen hatte er in das Wachs geritzt, und einen groben Plan der Stadt Nürnberg, auf dem er den
Weitere Kostenlose Bücher