Die Reliquienjägerin: Historischer Roman (German Edition)
Bündel auf und nahm eine kleine Decke aus fein gesponnener Wolle heraus. Sie war von zartem Gelb und von einer Seidenspitze gleicher Färbung gesäumt. Ein kostbares Stück Handwerkskunst, keine Frage. In den Rand einer der Längsseiten war oberhalb der Spitze mit dunkelgelbem Seidenfaden ein Name eingestickt: Amalie .
Ihr Vater hatte ihr gestern Abend das Deckchen in die Hand gedrückt und gesagt: »Das ist alles, was du am Leib trugst, als wir dich vor unserer Tür fanden. Das Deckchen und ein silbernes Kruzifix. Wir wussten gleich, dass du ein Christenkind bist.«
Rebekka hatte ihn fassungslos angestarrt, doch er hatte einfach weitergesprochen. »Am Tag des Schawuotfestes des Jahres 5092 war das. Du warst erst wenige Wochen alt. Mehr als siebzehn Jahre ist das nun her.«
»Aber Vater, …« Rebekka hatten die Worte gefehlt. Ihre ganze Welt drohte zusammenzubrechen. Sie war ein Findelkind! Sie war keine Jüdin, ihre Eltern waren nicht ihre Eltern, Rothenburg, die Stadt, in der sie aufgewachsen war, war nicht ihre Heimat. Vater musste sich irren! Hatte er selbst sie nicht als Kind des Öfteren angesehen und eine Bemerkung darüber fallen lassen, wie ähnlich sie ihrer Mutter sähe? Hatte er nicht wieder und wieder betont, dass sie das gleiche kastanienbraune Haar habe wie seine geliebte Esther, die gleichen hohen Wangenknochen und die gleichen fast schwarzen Augen?
»Dein wahrer Name ist Amalie, mein Kind«, hatte ihr Vater weitererzählt. »Amalie Belcredi. Das zumindest nehmen wir an. Denn in dem Körbchen, in dem du lagst, fanden wir ein in Lammleder gebundenes Büchlein, die Bibel der Christen, geschrieben in lateinischer Sprache. Ganz vorn in dem Büchlein standen zwei Wörter und eine Zahl: Belcredi, Prag 1332 . In der christlichen Zeitrechnung ist 1332 das Jahr, das unserem Jahr 5093 entspricht.«
Benommen hatte Rebekka die Gegenstände in ihrem Beutel verstaut, während der Mann, den sie ihr ganzes bisheriges Leben lang für ihren Vater gehalten hatte, ihr mit eindringlichen Worten erklärte, dass sie fliehen müsse. Er erzählte ihr von seinem Plan, von dem Wassertunnel, der von der Mikwe zu einem Brunnen außerhalb des Judenviertels führte, von Hermo Mosbach und von dem Kaufmann in Nürnberg, der sie nach Prag bringen sollte, damit sie dort nach ihrer Familie suchen konnte. »Der Kaufmann denkt, du seist eine christliche junge Frau, die von ihren Eltern ins Kloster geschickt wird. Er wird dich vor dem Tor des Klosters St. Georg in Prag absetzen, eine der Benediktinerinnen ist angeblich deine Tante.«
»Und ihr?«, hatte Rebekka gestammelt und verzweifelt erst ihren Vater und dann ihre Mutter angesehen. »Was wird aus euch?«
»Wir werden ebenfalls fliehen und kommen nach«, hatte ihr Vater versichert. »Hab keine Angst. In Prag werden wir uns wiedersehen.«
Rebekka klammerte sich an dieses Versprechen wie eine Ertrinkende, obwohl sie gesehen hatte, wie ihre Mutter den Blick senkte, als ihr Vater diese Worte sprach.
Behutsam strich Rebekka einmal über das Deckchen, dann verstaute sie es wieder in dem Beutel. Außer ihm und der kleinen Bibel befanden sich nur ein Paar Fellhandschuhe, eine Fellmütze und etwas Wegzehrung darin.
Rebekka verschnürte den Beutel und blickte auf. Gerade rollten sie an einer Ansammlung imposanter Steingebäude vorbei, einer Art Stadt vor den Toren Nürnbergs, mit wehrhaften Mauern, zwei Gotteshäusern und einem Spital. Das große Tor, das in die Mitte des zentralen Hauses eingelassen war, wurde soeben aufgestoßen, und eine Gruppe Reiter sprengte heraus, Männer in blinkender Rüstung, über der sie einen weißen, mit einem schwarzen Kreuz versehenen Umhang trugen. Es waren Ritter des Deutschen Ordens, wie Rebekka sie aus Rothenburg kannte. Mitglieder einer Bruderschaft, die für ihren Glauben nicht nur das Kreuz, sondern auch das Schwert trug, und die so mächtig war, dass sie an der Nordgrenze des Reiches sogar einen eigenen Staat besaß.
Kurz nachdem sie die Kommende des Deutschen Ordens passiert hatten, rollte der Karren vor das Stadttor. Rebekka bedankte sich bei den beiden freundlichen Alten und machte sich zu Fuß auf die Suche nach dem Haus von Egmund Langurius.
Überall drängten sich Menschen, nie zuvor hatte Rebekka so viele Leiber so dicht beieinander gesehen. Sie musste die Pegnitz überqueren, um in den nördlichen Teil der Stadt zu gelangen. Mühsam bahnte sie sich einen Weg, vorbei an Mägden mit Waschkörben, Händlern mit Karren voller Waren,
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