Die Reliquienjägerin: Historischer Roman (German Edition)
Standort eines Hauses markiert hatte. Ein Marktplatz war da gewesen, nördlich einer großen Kirche, die zu Ehren des heiligen Sebaldus errichtet worden war. Auf halbem Weg dazwischen eine Reihe mit dreistöckigen Kaufmannshäusern. Das Haus an der Ecke zu einer schmalen Gasse. Jetzt noch der Name. Langurius. Ja, sie erinnerte sich ganz genau, Egmund Langurius, Pelz- und Tuchhändler zu Nürnberg.
Wie gut, dass sie ein solch gutes Gedächtnis für Bilder hatte. Ein besonderes Geschenk Gottes hatte ihr Vater es immer genannt. Was sie anschaute, brannte sich in ihr Gedächtnis ein, sodass sie es später nicht nur genau erinnern, sondern auch detailgetreu aufzeichnen konnte. Gleichgültig, ob es sich um ein Gesicht, den Schnitt eines Gewandes oder um Schriftzeichen handelte: Wenn sie einmal einen Blick darauf geworfen hatte, blieb das Bild für immer in ihrem Kopf haften.
Ihr Vater hatte ihr außergewöhnliches Talent entdeckt, als sie gerade vier Jahre alt gewesen war. Er hatte ein Buch mit den religiösen Versen des Rabbi Meir ben Baruch auf dem Tisch liegen lassen. Rebekka war auf einen Stuhl geklettert, hatte die aufgeschlagene Buchseite betrachtet und die verschlungenen Zeichen bewundert, deren Sinn sie nicht verstand. Später hatte sie die Zeichen auf dem Hof hinter dem Haus mit einem Stöckchen in den Sand gezeichnet, Wort für Wort genau in der Reihenfolge wie in dem Buch. Ihr Vater war zuerst rasend vor Wut gewesen, hatte er doch angenommen, seine kleine Tochter hätte das kostbare Buch mit nach draußen genommen. Doch als sie immer wieder beteuerte, sie habe es gar nicht angerührt, hatte er sie eine zweite Seite betrachten und aus dem Gedächtnis in den Sand zeichnen lassen.
Danach war ihr Vater ganz aufgeregt gewesen. Er hatte Rebekka zu Rabbi Isaak gebracht, dem sie das Wunder erneut hatte vorführen müssen. Der Rabbi hatte in seiner Weisheit entschieden, dass diese besondere Begabung gefördert werden müsse. Und da Rebekka nicht mit den Jungen zur Schule gehen konnte, hatte er beschlossen, sie höchstselbst zu unterrichten. So war Rebekka jeden Nachmittag, nachdem sie mit ihrer Mutter die häuslichen Pflichten erledigt hatte, zum Haus des Rabbi Isaak gelaufen, um bei ihm Unterricht zu nehmen.
Rebekka seufzte und öffnete die Augen. Offenbar hatte ihr Vater Hermo Mosbach nicht völlig vertraut, sonst hätte er ihm den Namen und das Haus in Nürnberg genannt, anstatt es seiner Tochter auf eine Wachstafel zu kritzeln und sofort wieder zu löschen. Wenn Menachem ben Jehuda allerdings geahnt hätte, wie verderbt der vornehme Rothenburger Bürger tatsächlich war, hätte er ihm niemals seine Tochter anvertraut.
Unwillkürlich fuhr Rebekka sich mit der Hand an den Hals. Sie hatte die roten Striemen so gut es ging mit dem Kragen des Mantels verborgen. Die blauen Flecke, die der Kampf mit Mosbach auf ihren Armen und Beinen hinterlassen hatte, waren glücklicherweise durch ihr Kleid verdeckt. Rebekka schauderte. Wie knapp sie entkommen war! Doch sie hatte einen hohen Preis für ihre Rettung bezahlt. Sie war so kopflos geflüchtet, dass sie alles Geld, das sie besaß, bei Mosbach zurückgelassen hatte. Bis auf den Kreditbrief, den Mutter ihr in den Saum eingenäht hatte.
Trotz der Angst, ihr Peiniger könne sie einholen, hatte sie es nicht gewagt, die Landstraße zu verlassen. Die ganze Nacht durch war sie gelaufen. In der Morgendämmerung war sie auf einen Fluss gestoßen, hatte sich entkleidet und in dem eisigen Wasser ein Bad genommen. Danach hatte sie sich ein wenig besser gefühlt. Doch die Wirkung hatte nicht lange angehalten. Sie fühlte sich beschmutzt und entehrt. Auch wenn Mosbach sein Vorhaben nicht hatte zu Ende führen könnten, spürte sie noch immer seine dreckigen Finger auf ihrem Körper, auf ihren Brüsten, zwischen ihren Schenkeln. Ob sie es wagen konnte, im Nürnberger Judenviertel die Mikwe aufzusuchen? Würde sie sich danach besser fühlen?
Der Karren ruckelte und riss Rebekka aus ihren Gedanken. Etwa eine halbe Meile zuvor war sie von einem Ochsenkarren eingeholt worden, mit dem ein älteres Bauernpaar Käfige mit Geflügel nach Nürnberg zum Markt brachte. Die beiden Alten hatten Rebekka angeboten, sie mitzunehmen. Dankbar hatte sie angenommen und sich hinten zwischen den Käfigen ein Plätzchen gesucht. Inzwischen hatte sich die Landstraße mit Reisenden und Fuhrwerken gefüllt, die in einer langen Reihe auf die Stadt zustrebten. Es konnte nicht mehr weit sein.
Rebekka schnürte ihr
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