Die Reliquienjägerin: Historischer Roman (German Edition)
hatten. Sie hatten es nicht über sich gebracht, ihre Tochter die schlimmste aller Sünden der Christen begehen zu lassen. Denn als Christin wäre Rebekka unweigerlich in die Hölle gekommen, wenn sie am gemeinsamen Selbstmord der Juden teilgenommen hätte. Gab es einen besseren Beweis ihrer Liebe zu ihr?
»Einige jüdische Wohnhäuser sind ebenfalls niedergebrannt. Es heißt, die Juden hätten die Feuer gelegt, bevor sie sich im Tanzhaus versammelten. Ich bin mir da nicht so sicher. Jedenfalls hatte die Stadt ungeheures Glück. In den Morgenstunden ist ein Platzregen heruntergekommen, der den Funkenflug erstickte. Unsere Mittel allein hätten nicht ausgereicht, um den Rest der Stadt vor den Flammen zu retten. Manche Rothenburger sprachen deshalb von himmlischem Beistand.« Er schüttelte traurig den Kopf. »Den Rabbi hat man in der Nähe des Stadttores gefunden. Er ist nicht verbrannt, sondern wurde erschlagen.«
»Weißt du, wo meine Eltern begraben sind?«, fragte Rebekka benommen. »Gibt es überhaupt ein Grab?«
»Ja, das gibt es. Ich kann dich hinführen.« Johann stand auf und reichte Rebekka die Hand. Sie griff zu, er zog sie hoch, und als sie schwankte, umfasste er rasch ihre Taille. Ihr wurde schwindelig, sie wollte sich am liebsten einfach nur fallen lassen, in seinen Armen liegen. Aber das war nicht recht.
Sie straffte ihren Körper. »Danke, Johann. Es wird schon gehen.«
Zögernd ließ er sie los. »Es ist nicht weit.«
Sie traten vor die Scheune, die Sonne schien, Vögel zwitscherten. Ein neuer Tag! Und schon weit nach Mittag! Sie musste eine Nacht und einen halben Tag ohne Bewusstsein gewesen sein. Und Johann hatte die ganze Zeit bei ihr gewacht.
Johann zeigte auf einen Schimmel. »Ich nehme an, du kannst inzwischen reiten. Sitz auf, ich gehe zu Fuß.«
Von der Scheune aus, die im Süden der Stadt lag, ging es nach Nordosten, zurück in Richtung der Marienkapelle. Allerdings nur ein kleines Stück. Nach einer Weile kam ein Abzweig, dem sie den Berg hinauf zum Waldsaum folgten. Unterwegs erzählte Johann, was er in der Zwischenzeit in Nürnberg und Prag alles erlebt hatte. Er erwähnte auch seine Hochzeit mit Agnes und dass sie in wenigen Monaten ein Kind gebären würde. Rebekka gratulierte ihm mit belegter Stimme. Johann wechselte rasch das Thema und sagte, dass er Rothenburg verlassen würde, sobald es möglich war, dass er in Prag ein neues Leben anfangen wolle.
Am Waldrand angekommen, blieb Johann stehen und zeigte auf eine Wiese. »Hier liegen die Juden von Rothenburg begraben. Was für ein Verbrechen! Und welch eine Schande für jeden wahren Christen!«
Rebekka saß ab und sank auf die Knie. Sie begann zu beten, doch nach wenigen Worten kam die Verzweiflung. Bis auf Johann, der unerreichbar für sie war, hatte man ihr alles genommen, was ihr lieb war. Ihre Eltern, ihr Heim, ihre Freunde. Sogar den Glauben, mit dem sie aufgewachsen war. Nichts als das nackte Leben war ihr geblieben. Sie wartete auf die Tränen, doch es flossen keine. Nach einer Weile erhob sie sich. Die Sonne stand bereits tief.
Johann reichte ihr einen Samtbeutel. »Ich habe sie ausgesucht und für dich verwahrt.«
Rebekka öffnete den Beutel und fand darin zwei wunderbare Steine. Jetzt kamen die Tränen. Sie begriff, dass sie Johann so bald wie möglich verlassen musste. Denn sie liebte ihn, hatte ihn schon immer geliebt.
Sie legte die Steine auf die Wiese, sprach ein letztes stummes Gebet.
»Sollen wir die Totenwache halten?«, fragte Johann.
Rebekka schüttelte den Kopf. »Nein, ich muss so schnell wie möglich von hier fort.«
»Aber wohin?«
»Zu meinem Bruder.«
»Du hast einen Bruder?« Er sah sie ungläubig an.
Sie lächelte schwach. »Es gibt so viel, das ich dir zu erzählen hätte. Aber ich darf nicht länger verweilen.«
»Die Sonne geht bald unter«, wandte Johann ein. »Heute kannst du nicht mehr aufbrechen. Lass uns zur Scheune zurückkehren. Du kannst dort die Nacht verbringen. Ich komme morgen früh und bringe dir Geld, Proviant und ein Pferd. Wenn du dann immer noch entschlossen bist fortzugehen, werde ich dich nicht aufhalten. Solange du mir nur sagst, wohin du gehst, und mir versprichst, mir regelmäßig zu schreiben. Ich könnte es nicht noch einmal ertragen, nicht zu wissen, wo du bist und wie es dir geht.«
Rebekka schüttelte den Kopf. »Ich kann kein Geld von dir annehmen.«
»Keine Widerrede, Rebekka.« Sein Blick wurde ernst. »Ich stehe tief in deiner Schuld. Hätte ich mich an
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