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Die Residenz des Doktor Rattazzi: Roman (German Edition)

Die Residenz des Doktor Rattazzi: Roman (German Edition)

Titel: Die Residenz des Doktor Rattazzi: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ugo Riccarelli
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wäre. Diese Monotonie verdankte sich einem von den Armen der Aufseher und der Unerbittlichkeit der Schwestern gesteuerten Zeremoniell, Ritualen, die die Zeit und das Leiden, die Worte und das Schweigen, die Blicke und die Schreie wiederkäuten, im Versuch, die unverdauliche Speise des Wahnsinns zu verdauen.
    Beniamino ging nun hin und her zwischen dem Raum dieses Ozeans und dem Haus, in dem er geboren und aufgewachsen war und wo das Leben jetzt, im Schutz seiner neuen Arbeit, einen Anschein ruhiger Normalität gewonnen hatte. Elemira hatte wieder begonnen, sich um den Haushalt zu kümmern, sie umsorgte die heranwachsende Mara und säuberte die Kaninchenställe, während Aida sich in die Leere verblassender Erinnerungen treiben ließ. Sie saß im Garten neben dem Rosenbusch, als wollte sie dem Enkel möglichst nahe sein, der auf der anderen Seite des Gitters arbeitete. Wenn sie ihn neben den Verrückten im Hof auftauchen sah, lächelte sie, denn sie labte sich an einem Bild, auf dem er für sie schon ein Doktor inmitten seiner Patienten war, angesehen, würdevoll und entschlossen, erfüllt von einer Schönheit, angesichts deren sein Hinken keine Rolle spielte, war sie doch das Ergebnis seiner mühevollen Arbeit und der gewichtigen Bücher, die er studiert hatte.
    Für Beniamino jedoch waren diese Bücher in seinem Zimmer auf dem Regal in ordentlichen Reihen genau dort festzementiert, wo sie an dem Tag gestanden hatten, als der Castellucci ihm das Bein gebrochen hatte. Dort blieben sie stehen, wurden zu einem Spiegel, in dem er Ignazios und sein eigenes Gesicht reflektiert sah. Ignazios lächelndes Gesicht, geglättet vom Tod, der ihn am Tisch überrascht hatte, sein eigenes Gesicht nervös und besorgt wegen der Resignation, die er, wie er nun wusste, nie mehr würde besiegen können.
    Denn von dem Moment an, als er die Arbeit in der Irrenanstalt aufgenommen hatte, war in seinem Inneren, zunehmend deutlicher spürbar, die Gewissheit entstanden, dass die Verpflichtung, die er für seinen Vater eingegangen war und später vor Tiziani wiederholt hatte, die Absicht, das Studium zu beenden und zu promovieren, ein leeres Versprechen war.
    Nicht weil er bewusst etwas Falsches behauptet oder an einem Betrug festgehalten hätte. An seine Reden gegenüber Ignazio und seiner Mutter hatte er aufrichtig geglaubt, und die Verantwortung, die er für sie und Aida empfand, war ein Ansporn gewesen, die Unbilden der Krankheit tapfer zu ertragen und das Hinken zu akzeptieren, das ihn bei jedem Schritt beschämte. Und auch als durch Ignazios Tod die Suche nach Arbeit vordringlich wurde, hatte der feste Vorsatz, Arzt zu werden, ihn keinen einzigen Augenblick lang verlassen, im Gegenteil, Arm in Arm mit ihm war er vor Tiziani getreten, und mit ihm an seiner Seite hatte er den Professor von seiner Seelenstärke, seiner Fähigkeit zu verantwortungsbewusstem Handeln überzeugt. Ein Mann.
    Trotzdem hatte sich schon am ersten Tag, als er bei der Oberschwester vorstellig geworden war, ein feiner Riss in dieser Überzeugung aufgetan, die er für eisern gehalten hatte, und war von Tag zu Tag größer geworden, bis er einen Erdrutsch ausgelöst hatte, in dem sein Plan unterging.
    Der direkte Kontakt mit dem, was er durch die Grenze des Gartenzauns beobachtet hatte, war der erste Hammerschlag gegen die Mauer seiner Gewissheit gewesen. Während er der Schwester Oberin auf die Station folgte und sie die Aufgaben erläutern hörte, die er bei seiner Arbeit würde bewältigen müssen, hatte er plötzlich gespürt, wie etwas Mächtiges auf ihn einstürzte, eine Welle ihn ergriff, stärker als alle anderen Überzeugungen, alle anderen Vorhaben.
    Es war der Modergeruch der Gedanken, die sich in den Sälen stauten, das Gewicht der aufgeschobenen Worte und der unvollendeten Träume, der verlorenen, schwankenden Schritte von Wanderungen, die nirgendwohin führten. Es waren die ausgetretenen Schuhe, die neben den Betten stehengeblieben waren. Es waren die ungemachten Betten, die Laken mit den braunen Flecken, der abgeblätterte Lack an den Türen und Dutzende stierender, sehr naher, zu Schlitzen verengter oder geschlossener, verwirrter, entrückter Augen. Es waren die Stimmen, die sich vermischten wie auf einem Marktplatz, ein Weinen, ein Gelächter, die ersten Sätze einer Rede, die nie zum Abschluss kommen würde, und die Worte einer Schwester, die auf einen Schrank zeigte, die Bewegung eines kahlgeschorenen, glänzenden Schädels, der hartnäckige Geruch

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