Die Residenz des Doktor Rattazzi: Roman (German Edition)
klammerten, die sie dort vielleicht entdeckten. So fest verbanden sich diese Blicke mit ihm, dass Beniamino ihre Energie wie eine wirkliche Umarmung spürte. Sie drückte sich in einem offenen Lächeln aus, wie zwischen zwei Freunden, die sich nach langer Zeit wiedersehen.
Darauf entfernte sich der Junge von den Carabinieri und trat zwei Schritte auf den ankommenden Beniamino zu, ohne dass die Polizisten einschritten. Die beiden waren sichtlich erleichtert, dass sie die Verantwortung für den Verrückten, noch dazu an diesem unheimlichen Ort, abgeben konnten. Die Schwester hob kurz den Blick von ihren Papieren, und als sie Beniamino sah, nannte sie ihm die Nummer des Schlafsaals und des Bettes, in dem der neue Gast untergebracht werden sollte.
Für Beniamino war es eine natürliche Geste, die Arme auszubreiten und den Jungen, der sich fast auf ihn stürzte, mit einem einzigen Wort zu begrüßen: »Willkommen.« Der Albatros barg sein Gesicht an Beniaminos Brust und verharrte ein paar Sekunden lang stumm, bevor er einen tiefen Seufzer ausstieß und mit einem Zischen in der Stimme mindestens vier-, fünfmal seinen Namen sagte.
Dann richtete er sich mit Tränen in den Augen auf und sprach harte, schneidende Worte: »Ich muss abhauen«, sagte er, »dorthin, wo sie mich nicht finden können.«
Beniamino fühlte die Hitze der Angst in sich aufsteigen und spürte das Gewicht einer Verantwortung, die schon in den Blicken gelegen hatte, die sie getauscht hatten. Rasch ging er die Erfahrungen seiner ersten Arbeitsmonate durch, auf der Suche nach etwas, was ihm helfen könnte, damit er nicht in den Treibsand der Krankheit gezogen wurde. Doch die Vernunft kam ihm nicht zu Hilfe, denn seine Angst war stärker, und über diese Angst siegte wiederum, was er schon als Kind ersehnt hatte: der Wunsch, über den Gartenzaun zu klettern und sich zu der Herde der Irren zu gesellen, um Rosen zu kauen.
Und so sollte es, während Beniamino dieses zitternde Bündel in den Armen hielt, an jenem Tag Professor Cavani sein, der dem verängstigten Seevogel die einzige Antwort gab, die ein Verrückter dem Schrecken hätte geben können, den er an sich drückte:
Also redete Zeus’ blauäugige Tochter, und kehrte
Wieder zum hohen Olympos, der Götter ewigem Wohnsitz,
Nie von Orkanen erschüttert, vom Regen immer beflutet,
Nimmer bestöbert vom Schnee; die wolkenloseste Heitre
Wallet ruhig umher, und deckt ihn mit schimmerndem Glanze:
Dort erfreut sich ewig die Schar der seligen Götter.
I M L AUFE DER vielen Jahre, die das Leben ihm gewähren sollte, würde Beniamino noch oft darüber nachdenken, wie es möglich war, dass in jedem einzelnen Leben, über seine Tage verstreut, deutliche Zeichen eines Weges erscheinen, die den Menschen auffordern, diesen Weg zu gehen. Es können unbekannte und dennoch vertraute Namen sein, Dinge und Momente, und wie das Frontispiz eines Buches enthalten sie bereits Titel, Verfasser, Daten und Inhalte einer Geschichte, die auf den folgenden Seiten erzählt wird.
Das ereignet sich wie in jenen Träumen, in denen vieles dunkel und einleuchtend zugleich ist: man kennt es nicht, aber man weiß es. Gegenstände oder Menschen tauchen plötzlich aus dem Nichts auf und bringen alles mit sich, was binnen kurzem geschehen wird. Dieser Zukunft, die vielleicht ein Schicksal ist, überlassen wir alle uns fast willenlos, vertrauen uns ihr an, als hätten wir endlich etwas Unbestimmbares wiedergefunden, das wir lange Zeit nicht vollständig hatten begreifen können. Zwar fand Beniamino dies alles schon in Foscos Blick, doch war die Ankunft von Doktor Rattazzi am Abend desselben Tages erst recht eine Bestätigung jener sonderbaren Wege, auf denen sich Schicksalhaftigkeit und menschliche Daseinsweisen verflechten.
Schon die letzten, mit vielen praktischen Aufgaben angefüllten Stunden hatten die unterschiedlichsten Gefühle in ihm ausgelöst. Er hatte Fosco in das Leben dieser seltsamen Gemeinschaft einführen müssen, ohne seine Seele noch mehr zu erschüttern, die unter einer deutlich wahrnehmbaren Angst litt und angesichts der riesigen Säle mit ihren fremden Geräuschen und Gerüchen noch mehr in Aufruhr geriet. Beniamino hatte den kranken jungen Mann geduldig durch die Flure bis zum Schlafsaal geführt, ihm das Bett gezeigt, das von nun an sein »Wohnsitz der Götter« sein würde, und ihm dann freundlich die Räume des Hauses und die Personen erklärt, die es bevölkerten, mal eine kleine Geschichte, mal eine
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