Die Residenz des Doktor Rattazzi: Roman (German Edition)
Morgen aufzufangen verstand, sofort bereit war, den Schaum des Schlafes, aus dem er soeben gekommen war, wie einen übervollen Kelch auszuschütten: abgebrochene Sätze, kurze Beschreibungen von Orten, die er zu kennen behauptete, Litaneien aus Namen, die wie Gedichte klangen und abgespult wurden wie ein letzter Gruß, bevor er für den Rest des Tages in Schweigen versank, unterbrochen nur von Gebrumm und Weinkrämpfen, die wie überströmende Lava von einem unbezwingbaren inneren Schmerz kündeten.
An die Erzählungen der Signora Baldini, die behauptete, sie habe sieben Söhne geboren, gestillt und umsorgt, aufgezogen und allesamt gut verheiratet, während sie in Wirklichkeit nie Kinder gehabt hatte. In der Tasche ihres Hemdes bewahrte sie eine vertrocknete Kastanie auf, so hatte ihr Mann sie verächtlich genannt, verschrumpelte Kastanie, weil sie unfähig war, ihm einen einzigen lumpigen Erben zu gebären. So verbrachte sie Stunden mit ihren Erzählungen, schaukelte sachte vor und zurück, als sänge sie ein Schlaflied, sagte die Litanei der sieben Namen auf, dazu die Namen der Schwiegertöchter und Enkel, die Namen der Städte, in denen ihre weitverzweigte Familie lebte und in die sie bald fahren musste, um jedem von ihnen eine Hilfe und Stütze zu sein.
In diesen und anderen Seelen erblickte Beniamino eine Geschichte, verborgen oder offen zutage liegend, gleichwohl immer bedrückend und beängstigend, eine mit dem Messer der Krankheit in die Haut dieser Menschen geschriebene Geschichte. Darum spien diese Münder so oft Schmerz aus und bluteten, wie ihm Ubaldo Mei erklärt hatte, um die Verletzungen zu begründen, die er sich selbst beibrachte. In das Blut tauchte er dann ein spitzes Stöckchen, das er am Rosenbusch abgebrochen hatte und mit dem er, sobald er den Blicken der Aufseher entkommen konnte, das Auf und Ab seines Lebens an die weißverputzten Wände schrieb. Unendlich viele Zeilen hatte Ubaldo schon geschrieben, und jedesmal hatten Aufseher und Schwestern seine Sätze mit Seife, Lappen und Schwämmen weggekratzt, ausgelöscht und zerstört wie Penelopes Tuch, um die Ordnung der Anstalt wiederherzustellen, so dass er gezwungen war, von neuem mit dem Schreiben anzufangen.
Auch an dem Tag, als Fosco ankam, begleitet von zwei Carabinieri, las Beniamino in seinem Blick die Bürde einer Geschichte, den Samen einer Unruhe, die ihn neugierig machte, deren Ursprung und Verlauf und Bedeutung er kennenlernen wollte.
Von der Oberschwester an die Tür des Saales gerufen, sah er einen jungen Mann zwischen den beiden Soldaten stehen, schlank und hochgewachsen, Augen, die unruhig die Umgebung musterten, wie auch der ganze Körper von einer sichtlichen Unruhe beherrscht wurde. Der Junge wirkte wie ein verstörter Vogel, ein verwirrter Albatros, der ängstlich nach einem ruhigen Ort suchte, wo er sich niederlassen konnte.
In dieser Welt durchbrach jedes Ereignis, das nach einer möglichen Neuigkeit aussah, die Kruste der Gewohnheit und zog die Aufmerksamkeit derjenigen Bewohner der Irrenanstalt auf sich, die noch wach genug waren, um es wahrzunehmen. Wie ein von Brotkrumen angelockter Schwarm Tauben standen einige von ihnen langsam auf und näherten sich mit neugierigen Blicken, ausgestrecktem Zeigefinger, Zuckungen oder Grimassen dem Ort, an dem etwas passierte.
Es waren harmlose Bewegungen, kein Anlass zur Besorgnis für denjenigen, der mit diesem Mikrokosmos vertraut war, denn solche Ereignisse kamen zwar nicht oft vor, aber man hatte sie bereits erlebt, man kannte sie, und sie ließen sich mit einem Blick oder einer Handbewegung in Schach halten. Darum fuhr die Schwester, nachdem sie einen Blick auf die vorrückende Schar der Neugierigen geworfen hatte, fort, die Anweisungen der Ärzte zu lesen, wohingegen die beiden Carabinieri neben dem jungen Mann von dem Ansturm sichtlich eingeschüchtert waren.
Als Beniamino vorsichtig einige Verrückte beiseite schob und auf die Gruppe zukam, begegnete er dem unruhigen Blick Foscos und erahnte in seinem ängstlichen Ausdruck das gleiche Gefühl, mit dem er selber in diesen Tagen zu kämpfen hatte, weil er erkannte, dass er gescheitert und im Begriff war, in ein Labyrinth abzugleiten. Und dank einer jener geheimnisvollen Symmetrien, die manchmal ohne ersichtlichen Grund das Leben der Dinge und Menschen miteinander verbinden, blieben Foscos umherirrende Blicke an Beniaminos Augen hängen, hefteten sich auf sie und gelangten in sein Inneres, wo sie sich an die Angst
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