Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Residenz des Doktor Rattazzi: Roman (German Edition)

Die Residenz des Doktor Rattazzi: Roman (German Edition)

Titel: Die Residenz des Doktor Rattazzi: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ugo Riccarelli
Vom Netzwerk:
die anzupflanzen meiner Mutter Freude machte und die auszureißen für uns Kinder ein großer Spaß war. Wir zerstampften sie nämlich zu einer Art Brei, es gefiel uns, die Blätter knistern zu hören und diesen Karneval unterschiedlichster Düfte aufsteigen zu lassen.«
    Der Mann lächelte, die Augen fest auf einen Punkt im Hof geheftet, als blickte er weit über das, was er sah, hinaus.
    »Habt ihr je versucht, die Knospen von Glockenblumen zum Platzen zu bringen? Oder den Stengel von Stiefmütterchen zu lutschen?«
    Gleich darauf zupfte er wieder Blütenblätter vom Rosenbusch und reichte sie seinen Gesprächspartnern.
    »Nur Mut, versucht einmal, sie zu reiben und ihren Duft zu riechen«, sagte er in einem freundlichen, heiteren Tonfall, der Beniamino an Ignazios Stimme erinnerte, wenn er, einen aufgerollten Meter Stoff über der Schulter, die Kunden aufforderte, die Qualität der Ware durch Betasten zu überprüfen.
    So saßen sie eine Weile schweigend da, alle drei damit beschäftigt, die Rosenblätter zwischen den Fingern zu zerreiben, um dann ihren Duft einzuatmen, als wäre es ein Spiel. Vor allem Fosco hatte sich nach anfänglichem Argwohn allmählich überzeugen lassen und war nun eifrig in das Reiben und Riechen vertieft, ja, er zeigte seine Freude über den Duft mit einem Lächeln, das zusehends an Schüchternheit verlor.
    Beniamino dagegen war überrascht, verwirrt von der Freundlichkeit dieses geheimnisvollen Menschen, der zwar aussah wie ein Arzt, aber nicht das abweisende, strenge Verhalten an den Tag legte, das die Ärzte Aufsehern und Patienten meist entgegenbrachten. Darum hielt er sich noch ein wenig zurück und benutzte den Schutzschild des Spielchens, um Zeit zu gewinnen und zu verstehen.
    In diesem Moment tauchte am Himmel über dem Irrenhaus ein Schwarm Vögel auf, so groß und dicht, dass er die Sonne fast vollständig verdeckte. Durch das Stimmengewirr im Hof fuhr ein Flügelrauschen, und über den Köpfen wogte eine schwarze Wolke hin und her, die sich, wenn sie jäh die Richtung wechselte, hob und senkte wie ein einziger Körper.
    Diese plötzliche Erscheinung war wie ein Peitschenhieb: Fast alle Irren hoben den Kopf zum Himmel, und viele brachen, mit den Händen winkend, in Rufe und Schreie aus, als wollten sie die Vögel auf sich aufmerksam machen. Auch Fosco war von den Bewegungen am Himmel fasziniert, und nachdem er anfangs verwirrt den kreisenden Schwarm angestarrt hatte, sprang er abrupt von der Bank auf und begann, mit den Armen wie mit Flügeln zu schlagen, lief los, drehte sich um sich selbst und versuchte Muster nachzuahmen, die sich über seinem Kopf bildeten.
    Als hätte er ihnen ein Zeichen gegeben, standen nun andere Irre von den Bänken auf und fingen an, über den Hof zu laufen, einen frenetischen Tanz improvisierend, einen Triumph der Konfusion und des Lärms. Alles rannte und hüpfte, imitierte den Flug der Vögel mit Geschrei und Geheul, ohne sich um die Rufe der Aufseher zu kümmern, die versuchten, diesem Tohuwabohu Einhalt zu gebieten.
    Beniamino war unschlüssig stehengeblieben. Sollte auch er loslaufen, um das Durcheinander zu bändigen, oder lieber abwarten, bis der Aufruhr sich von selbst legte? Im Grunde seines Herzens war auch er von diesem Tanz fasziniert, diesem Energieausbruch, der die Anstalt schlagartig aus ihrem gewohnten Dämmerzustand gerissen und belebt hatte. Es war ein ebenso hinreißendes wie schreckliches Schauspiel aus unkoordinierten Schritten, übertrieben theatralischen Gesten, Abläufen ohne Sinn, alles in allem ein getreues Spiegelbild der verzerrten Gedankengänge dieser Geister, ihrer zusammenhanglosen Reden, ihres Schreiens und Verstummens, ihrer Obsessionen und Ängste. Ein Aufeinanderprallen plumper Körper, eine Kakophonie aus Tönen, die gleichwohl in ihrem aberwitzigen Zusammenklang ihre eigene Vernunft und eine Art Würde zu besitzen schien. Fast eine Art Schönheit. Für Beniamino bildeten daher eher die Rufe der Aufseher und die gellenden Schreie der Schwestern Misstöne in dieser chaotischen Perfektion, scharfe Messerklingen über einer Kruste aus scheinbar sinnlos zusammengewürfelten Farben.
    Das dachte Beniamino, als er dem Flug der Verrückten zuschaute, und fast schämte er sich dieser Gedanken, als würden sie ihn unerlaubterweise von der Verpflichtung befreien, für die er bezahlt wurde und der seine Kollegen gerade nachzukommen versuchten, während er sitzen blieb, um wie im Theater einen Tanz zu bewundern.
    Also hatte er

Weitere Kostenlose Bücher