Die Residenz des Doktor Rattazzi: Roman (German Edition)
zwängten.
Langsam kletterten sie von der Pritsche, fasziniert und eingeschüchtert zugleich von der Schönheit des Ortes, die über sie kam wie ein zu großes Geschenk, ein Panorama, zu weit für Augen, die durch die Gewöhnung an einen engen, zusammengepressten Gesichtskreis zu einem Käfig geworden waren. Wie Katzen, misstrauisch und neugierig zugleich, stiegen sie von der Pritsche, wanderten umher, berührten die Dinge und rochen daran, suchten einen Winkel, wo sie sich zusammenkauern konnten, ein Stück Wiese, wo sie sich ausstrecken, von der Sonne wärmen lassen und die Kieselsteine und Grashalme betasten konnten, so endlos und zahlreich, dass nicht einmal die Geduld von Professor Cavani ausgereicht hätte, alle zu zählen.
Und nachdem sie sich mit der Weite und dem Licht, mit dem ungehindert wehenden Wind und dem ungewohnten Geruch der Wiesen vertraut gemacht hatten, gingen sie zum Haus, wo Doktor Rattazzi nach ihnen rief und wo Beniamino und Marcella sie in die große Küche führten, damit sie ein Glas frisches Wasser tranken. Sie saßen um den großen Tisch und tauschten Eindrücke und Meinungen aus, ein mit Angst gemischtes Lächeln, Wünsche voller Fragen.
Mita erinnerte diese Küche an das Haus, das sie verlassen hatte, als sie die Irrenanstalt kam, an das Geschrei ihres schimpfenden Vaters, und das machte ihr angst, darum verschanzte sie sich hinter Worten, die sie wie eine Litanei wiederholte, und sie hätte nicht sagen können, ob dieses Psalmodieren eine Zuflucht war oder ihr Mut machen sollte. Bardi dagegen war fasziniert von den blitzenden Kochtöpfen, die Elemira auf dem Bord neben dem Backtrog anordnete, während Fosco sich neben Beniamino hockte, um vom Tischende aus diese seltsame Familie zu betrachten, auf der auch jetzt noch zurückgehaltene Blicke, halb ausgesprochene Worte, Weinen und verlegenes Lächeln lasteten.
Später begannen Marcella und Mara, das Mittagessen aufzutischen, das Elemira gekocht hatte, und das gemeinsame Mahl half, die Befangenheit zu zerstreuen, mehr Fröhlichkeit unter die Erzählungen und Worte zu mischen, bis Rattazzi nach beendeter Mahlzeit das Rührt euch! befahl und allen plötzlich bewusst wurde, dass es hier möglich sein würde, die eigenen Gespenster auch ohne die Hilfe von Regeln, Anordnungen von Ärzten und Schwestern, ohne die Mauern des Hofes oder den Gestank der Schlafsäle mit sich herumzutragen. Man konnte sich von ihnen auch auf den mit Kies bedeckten Vorplatz oder bis zur Wiese begleiten lassen und sie sogar vergessen, indem man eine Ameisenprozession beobachtete oder Steinchen aufhäufte wie die aufgeschichteten Worte im Kopf, oder indem man sich bis zu den Zypressen vorwagte, um Eicheln zu sammeln oder kleine gelbe Blumen zu pflücken, die viel bitterer waren als die Rosen im Hof, aber winzig und delikat und so zahlreich, dass sie fast einen Teppich auf der Wiese bildeten. So schienen die Gedanken der Irren, während sie auf dem Hof ausschwärmten, sich eine kurze Pause von den Ängsten und Zwängen zu gönnen, die das Leben der Kranken belasteten.
Eine ungewöhnliche Ruhe, eine seltsame Heiterkeit prägte diesen Nachmittag, was gewiss an den neuen Erfahrungen und der Müdigkeit lag, an der Zufriedenheit darüber, angekommen zu sein und einen schwierigen Teil der Arbeit geleistet zu haben, jetzt aber ein paar Stunden Aufatmen und Freude über das Licht genießen zu können, weit weg vom Dunkel des Irrenhauses und des Krieges.
Wahrscheinlich kam es Beniamino darum so vor, als hätten die Obsessionen der Verrückten sich friedlich wie eine zahme Herde über die Wiese verstreut und als habe sich in dieser Atempause endlich ein Schleier des Friedens über diese armen Seelen gesenkt.
Von diesem Frieden wurden alle angesteckt, obwohl ihnen bewusst war, dass es sich um eine kostbare, vergängliche Gunst handelte, etwas, was der erste Windstoß ihnen entreißen konnte. Doch solange die Ruhe andauerte, ließ sich jeder im Pianoro von der Hoffnung beflügeln, dass ein solcher Seelenfrieden möglich war und dass er nicht in der Arroganz der Perfektion lag, sondern in der Schönheit der kleinen Dinge, die sich in diesen Stunden wie durch ein Wunder um sie versammelt hatten: ein behagliches Haus, der Geruch der Wiesen, das Ausruhen von der Mühe, die zubereiteten Speisen, der klare Himmel und eine Zeit, die so schleppend verging wie eine langweilige Rede.
Beniamino suchte Marcella, denn er hatte beschlossen, diese Atempause zu nutzen, also nahm er sie
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