Die Residenz des Doktor Rattazzi: Roman (German Edition)
durchdrungen, was zutiefst menschlich, weil besiegt und schwach war. Weil es krank war.
So spürte Rattazzi, als Beniaminos Tränen auf den Kies fielen, nicht nur Trauer über diese Erkenntnis, sondern auch Freude, weil er schließlich begriffen hatte, dass er ein Arzt war. Er sah sich umgeben von der Bestürzung der anderen, der fühlbaren Angst vor dem, was der heraufziehende Sturm diesem Grüppchen wehrloser Halme zufügen würde. Eine neue Kraft drängte ihn zum Handeln. Er hob den Blick, war sich der Erwartung der anderen bewusst: »Schnell, bringen wir alle hinein«, sagte er, während er schon auf die Wiese zuging, wo Fosco und Giovanni noch immer rücklings auf dem Gras ausgestreckt den Himmel betrachteten. Wie ein Bauer, der seine Hühner scheucht, trieb Rattazzi mit Händeklatschen und Lockrufen seine verlorenen Seelen zusammen.
»Husch, husch, lauft, meine Hühnchen!« rief er fröhlich, so dass Mita, Renzo und die anderen aus ihrer Benommenheit erwachten und sich mit lustigen Sprüngen an dem Spiel beteiligten.
Auch Beniamino ließ sich von der Komödie mitreißen und verwandelte die Angst, die ihn bis jetzt in Bann geschlagen hatte, in eine fröhliche Jagd auf Malfatti, der in seiner Überraschung über das plötzliche Spiel losgerannt war und Purzelbäume auf der Wiese machte.
Ohne Beniaminos Arm, an den sie sich geklammert hatte wie an einen Brückenpfeiler, stand Mara nun allein mitten auf dem Hof, die Augen noch feucht von den Tränen der Angst und eine Hand auf dem Mund, um das Lächeln zu verbergen, das die seltsame Szene ihr entlockte.
Sie beobachtete Rattazzi, den unglaubwürdigen Bauern mit seinem vom Alter beschwerten Schritt, während er Fosco verfolgte, der sich hinter dem Schuppen versteckte, und Beniamino, der hinkend Malfatti umkreiste, und den sonst so störrischen Bruni, der jetzt in die Hände klatschte und einen Truthahn nachahmte, während Marzi sich kopfschüttelnd eine Zigarre anzündete und Marcella das plötzliche Durcheinander lächelnd vom Küchenfenster aus bestaunte.
So kehrten sie alle keuchend und schwitzend in den Schutz des Hauses zurück, worauf die einen Wasser tranken, andere sich auf dem Sofa oder einem Bett ausstreckten, damit die Aufregung über das Hühnerhofspiel sich legte.
Dann kamen die Partisanen.
Von der Höhe des Hügels kam ein Dutzend ferne dunkle Flecken rasch zum Haus heruntergeschlichen.
Rattazzi und die anderen sahen, wie sie sich näherten und etwa zwanzig Meter vor dem Hof stehenblieben, locker gruppiert, wie eine Handvoll über den Tisch verstreuter Kirschen. Dann bewegten sich zwei dieser dunklen Flecken und schritten auf die Tür zu.
Hinter dem Fenster wandten die auf den Hügel gerichteten Blicke sich jetzt zum Doktor um, der als einziger wagte, das bleischwere Schweigen zu durchbrechen: »Nun gut, gehen wir unsere Gäste empfangen«, und mit diesen Worten ging er den Ankömmlingen entgegen.
Mit ernstem Blick und leicht beschleunigtem Atem, das Gewehr in der Hand, trat einer der beiden Männer vor Rattazzi.
»Ich bin Hauptmann Remo«, sagte er, »Anführer der Partisanenbrigade Prati. Meine Männer und ich müssen eine Weile hierbleiben und uns ausruhen.«
Rattazzi, die Augen fest auf den Mann gerichtet, sagte warnend: »Das verstehe ich, aber ich muss Ihnen mitteilen, dass dies ein besonderer Ort ist. Ich bin Arzt der städtischen Irrenanstalt, und wir haben einige der Geisteskranken hierhergebracht. Ich fürchte, Ihre Anwesenheit könnte ein ohnehin schon prekäres Gleichgewicht gefährden. Für diese Menschen ist jede Veränderung ein Schock.«
Hauptmann Remo machte eine ungeduldige Handbewegung.
»Ich trage die Verantwortung für zehn Männer, ein paar von ihnen sind verletzt, und seit wir durch die Schlucht gekommen sind, ist eine Meute von Nazis hinter uns her. Die Front kommt näher, der Kampf hat gerade erst begonnen. Wir müssen etwas essen und Atem holen«, sagte er mit einem scharfen Unterton.
Dann wandte er sich zu den Männern um, die auf der anderen Seite des Hofes stehengeblieben waren, gab ihnen ein Zeichen, schob Rattazzi mit einer Hand beiseite und trat entschlossen über die Schwelle.
»Außerdem wird man sich unter Verrückten ganz gut verstehen«, schloss er mit einem schiefen Lächeln auf den Lippen.
Marcella und Mara stellten Brot, Käse und ein paar Flaschen von dem Wein, den Marzi gerade gebracht hatte, auf den großen Küchentisch, während Elemira sich mit gerötetem Gesicht aufgeregt am Herd zu
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