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Die Residenz des Doktor Rattazzi: Roman (German Edition)

Die Residenz des Doktor Rattazzi: Roman (German Edition)

Titel: Die Residenz des Doktor Rattazzi: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ugo Riccarelli
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ausdünsten. Wir können den Kranken wirklich nahe sein, versuchen mit ihnen zu reden und sie endlich so kennenlernen, wie wir sie nie kennengelernt haben, vielleicht sogar, indem wir selbst probieren, verrückt zu sein«, schloss Rattazzi begeistert.
    Beniamino staunte. Er verstand diese Reden nicht ganz. Er sah nur den Enthusiasmus seines Mentors und fügte sich ihm skeptisch, ein wenig erschreckt von der Verwirrung, die Rattazzis Reden in ihm ausgelöst hatten.
    Als er später Marcella nach Hause brachte, vertraute er ihr an, wie ratlos er nach diesem Gespräch gewesen war, und versuchte, an ihrer Seite laut denkend, zu ergründen, wieviel Wahres an Rattazzis Ideen sein mochte, an der von ihm beschriebenen Aussicht, die Beniamino, wie er zugab, gleichzeitig faszinierte und erschreckte. Das liebevolle Schweigen Marcellas während dieser Minuten war der Spiegel, in dem er sich selbst sah, und er stellte sich den Eindrücken, die ihn schon als Kind dazu getrieben hatten, dem Wahnsinn hinterherzuspionieren, und auch dem Gefühl der Unfähigkeit, aufgrund dessen er eigentlich nie an sein Studium geglaubt hatte.
    Doch es war vor allem Marcellas Umarmung zum Abschied an diesem Tag, so fest, wie noch keiner Beniamino umarmt hatte, eine Umarmung, die ihn aufrüttelte und zu einer Entscheidung brachte. Denn in dem Moment, in dem die liebenden Arme ihn umschlangen, spürte er nicht nur den realen Kontakt mit einem anderen Körper, sondern auch jenes Gefühl, das nur die Liebe hervorruft, etwas, was den Tod zugleich verbannt und herbeibeschwört, was fordert und loslässt, vereint und trennt, aber immer und in jedem Fall verpflichtet. An jenem Tag war es nicht die Verpflichtung, mit Worten auf Marcellas sanfte Stimme zu antworten, die ihn nach beider Gewohnheit mit »mein Dottore« verabschiedete, sondern die Gewissheit, dass er wirklich ein Doktor sein konnte, und zwar aus Liebe.
    Es musste jene Liebe sein, das ahnte Beniamino, während er nach Hause ging, die wirkliches Mitleiden war, die endlich über den Zaun sprang und die Rosen kaute, ihren Duft aufnahm und seine Essenz befreite. Plötzlich erschien ihm die Irrenanstalt, die vor ihm aufragte, mit jedem Schritt wirklich wie das Gefängnis, das Rattazzi beschrieben hatte. Beniamino hatte sie in der Hoffnung betreten, dort das Geheimnis der Ekstase zu finden, um die er die Verrückten schon als Kind beneidet hatte, doch die, das verstand er jetzt, würde er nur finden, wenn er in umgekehrter Richtung über die Mauern sprang, sie niederriss und weit weg floh. Die Alpträume der Schlafenden, die erstickten Worte, den Gestank und die Scheiße, die aufgerissenen Augen, die obsessiven Litaneien und die verzerrten Gesichter, die Quintessenz allen widersinnigen und unerträglichen Leidens würde er mitnehmen, um all das endlich auf die Straßen und die Felder, in die Himmel und auf die Plätze zu entlassen, dorthin, wo es Aufmerksamkeit und Liebe erfahren konnte. Und Heilung.
    Darum ging er, auf dem höchsten Punkt der Straße angekommen, nicht um das Irrenhaus herum, lief nicht zu Elemira und Mara, um sie von den nun kurz bevorstehenden Veränderungen zu benachrichtigen, sondern nahm den Weg durch das düstere Eingangstor und eilte fast laufend, so schnell sein Hinken es erlaubte, die große Treppe bis zum Sprechzimmer von Doktor Rattazzi hinauf, riss ohne anzuklopfen wie eine Furie die Tür auf, stieß vor dem erstaunten Blick des Arztes einen langen erlösenden Seufzer aus und sagte nur drei entschlossene Worte:
    »Ich bin bereit.«

D AS H AUS BEI Pianoro tauchte hinter der letzten Wegbiegung auf, nachdem die von Zypressen gesäumte Straße sich über eine lange Wegstrecke an die Hügelflanke geschmiegt hatte. Von der Pritsche des Lastwagens aus gesehen, erschien es Beniamino erschreckend klein und ungeschützt. Vor dem geistigen Auge hatte er, die Gewohnheit hatte es eingeprägt, das Bild der hohen Mauern um die Irrenanstalt vor sich, der großen, mit Eisengittern geschützten Fenster und des ehrfurchtgebietenden Eingangstors mit seinen schweren Türflügeln. Darum erschien ihm dieses Landhäuschen wie ein lächerlicher Scherz, eine Muschelschale, eine viel zu leichte Hülle, um darin die Bestie des Wahnsinns in Schach zu halten.
    Doch auf dem kurzen Stück Weg, das der Lastwagen noch bis zum Hof zurücklegte, löste diese Verwirrung sich auf: In der Mitte eines breiten Talkessels zwischen den Hügeln erbaut, von Wiesen umringt und von der Sonne beschienen, lächelte das

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