Die Residenz des Doktor Rattazzi: Roman (German Edition)
eingeschlossen, in Riemen und Regeln gezwängt waren, konnten sich im Pianoro jedes auf seine eigene Weise beruhigen und nach Belieben Zeit nehmen, bis Doktor Rattazzi sie überreden würde, freiwillig zu verschwinden, ohne Mita die Luft abzuschnüren oder Bardi seine Freude an allem, was glitzerte, zu rauben, ohne Ärger zu machen und den armen Teufeln, die diese Plagegeister schon allzu lange mit sich herumschleppten, noch mehr Schaden zuzufügen. Dann würden sie in derselben Richtung verschwinden, die die Partisanen eingeschlagen hatten, hinter dem Hügel, auf der Flucht vor der heranrückenden Front, vor der alle flohen.
Doch gerade bei dieser Vorstellung fuhr Beniamino ein Stich durchs Herz. Sie brachte ihm die Gespräche in Erinnerung, in denen Rattazzi ihm von der Zerstörungslust erzählt hatte, die in den Menschen lauert. Eine eisige Klinge fuhr ihm den Rücken hinab, und zum erstenmal erkannte er in aller Klarheit, dass es der Tod war, der hinter der Schlucht diese Lust befriedigte, dass der Krieg Krieg war, weil er keine Gnade kannte und keine vernünftige Logik außer der des Tötens.
Den Kopf seines Mentors zwischen den Händen, hatte Beniamino das Panorama wieder vor Augen, das er vor wenigen Wochen mit Marcella vom Gipfel des Hügels aus betrachtet hatte, nachdem sie sich durch die Leidenschaft und Fröhlichkeit der Liebe hatten täuschen lassen. Er sah jene Flutwelle, die langsam stieg und die kleine Insel, auf die sie sich vergeblich geflüchtet hatten, schon sehr bald überschwemmen würde.
Also schluckte er die letzten Tränen hinunter und auch den Groll über diesen neuen Vater, der ihn ebenfalls allein gelassen hatte. Er trocknete sich die Augen und versuchte Malfatti zum Aufstehen zu bewegen. Auf den wenigen Kilometern zurück zum Pianoro durchlebte er mit jedem Schritt noch einmal alle Momente, die er mit Rattazzi geteilt hatte, von dem Tag an, als der Arzt plötzlich neben ihm auf der Bank im Hof gesessen hatte, bis zu dem Moment, da er ihn an sich gedrückt hatte in der Hoffnung, sein Leben noch eine Weile festzuhalten.
In diesen Erinnerungen wirbelten Bilder, Worte, Farben und Gerüche wild durcheinander, ohne dass er ihnen eine Ordnung, einen Sinn geben, irgendeinen nützlichen Wink entnehmen konnte, der ihm bei den bevorstehenden Aufgaben geholfen hätte.
In dieser Nacht schlief Beniamino nicht. Nach ihrer traurigen Rückkehr ins Haus war das Knäuel aus Empfindungen zu einer drückenden Last angewachsen, die nicht einmal Marcellas Liebe, die Zuneigung seiner Mutter und seiner Schwester und die Freundschaft aller anderen leichter werden ließen.
Jetzt erwartete ihn eine neue Verantwortung, größer und schwerer zu tragen als die gegenüber Ignazio, Elemira und Aida. Und hier gab es keinen Castellucci, den er hätte beschuldigen können, nichts, was ihm als Schutzschild diente.
Noch beschwerlicher wurde ihm die Aufgabe wegen seiner Gefühle für Rattazzi, wegen der Begeisterung und der Hoffnungen, die dieser Mann auf ihn übertragen hatte. Die Beziehung zu Rattazzi hatte ihn zu dem festen Entschluss geführt, sein Schicksal mit den Kranken zu teilen, ihr Leiden mitzuerleben und etwas zu finden, was die Mauern der Krankheit und der Anstalt durchbrechen konnte, um endlich Arzt zu sein, wozu es ihm bisher an Mut gefehlt hatte.
Beniamino blieb die ganze Nacht wach. Er schaute aus dem Fenster, atmete die klare Luft ein und wünschte sich, der Duft der Wiesen, der zu ihm aufstieg, könnte ihm auch jenen Rat, jene Rezeptur bringen, die der sterbende Rattazzi ihm, wie er gehofft hatte, anvertrauen wollte, als er ihn mit letzter Kraft zu sich hergewinkt hatte. In jenem Augenblick hatte Beniamino sich mit klopfendem Herzen über sein Gesicht gebeugt und den Atem angehalten, um aus dem Röcheln noch irgendeinen Hinweis herauszuhören, einen Letzten Willen womöglich, den er auf jeden Fall wie eine Zauberformel angewendet hätte.
Reglos und angespannt hatte er in dieser Haltung gewartet, ohne dass es ihm gelungen wäre, mehr wahrzunehmen als das entschwindende Leben des Arztes. Darum drückten seine Tränen nicht nur den Kummer über diesen neuen Verlust aus, sondern auch seine Bestürzung über die ausgebliebene Offenbarung, ohne die er jetzt schutzlos allen Stürmen, allen Erwartungen und Hoffnungen der Hausbewohner ausgesetzt war.
Bevor Marzi den Leichnam des Doktors mit dem Lastwagen holte, um ihn neben dem Haus zu bestatten, hatte er Elemira, Marcella und den anderen geschildert, was
Weitere Kostenlose Bücher