Die Residenz des Doktor Rattazzi: Roman (German Edition)
sie mit der Stille, die das Haus noch umfing.
In dem Frieden ringsumher erkannte er, dass die Unruhe der letzten Nacht sich in einen Drang zum Handeln verwandelt hatte, in etwas, was ihn rief. Er hatte zwar noch nicht ganz verstanden, was es war, wusste aber, dass er es tun musste. Von diesem Gefühl beherrscht, ging Beniamino, eine Tasse Kaffee in der Hand, zu Rattazzis Zimmer, wo er sich an den Türrahmen lehnte und die stummen, reglosen Dinge in dem Zimmer betrachtete, als suchte er in ihrer Erstarrung einen konkreten Hinweis.
Er trat ein, setzte sich an den Tisch, den der Doktor als Schreibtisch benutzte, und blätterte in den Heften, in die Rattazzi seine Notizen einzutragen pflegte. Reihen, dicht mit Worten, Zeichen und energisch gesetzten Strichen gefüllt, Randbemerkungen in einer Unordnung, die ihn an die Hefte erinnerte, in denen Ignazio Bericht über seine Geschäfte geführt hatte. Bei diesem Gedanken spürte er einen Stich im Herzen, das wiederkehrende Gefühl, ein Waisenkind und allein zu sein. Behutsam schloss er die Hefte und legte vorsichtig eine Hand auf den kleinen Stapel Papiere. Neben den Heften erblickte er die Krankenakten, die Rattazzi aus der Anstalt mitgenommen hatte. Die erste gehörte Fosco. Beniamino öffnete sie, überflog die Eintragungen und Notizen zur Anamnese, die medizinischen Anmerkungen. Die Blätter waren sorgfältig ausgefüllt bis zum Datum des Umzugs, doch von dem Tag an gab es statt der schriftlichen Einträge eine Reihe von Zeichnungen, die die Seiten vollständig bedeckten: Skizzen von Vögeln, eine Rose mit fallenden Blütenblättern, das Rad von Marzis Lastwagen, erstaunlich präzise wiedergegeben, dann eine Hand von Fosco, sein charakteristisch verzogener Mundwinkel, seine Augen, die den Flug der Vögel am Himmel verfolgten, seine Schuhe, die Knöpfe seiner Jacke, an denen er unaufhörlich nestelte, sein auf eine Hand gestütztes Gesicht in einem hellen Lichtstrahl.
Überrascht schlug Beniamino die nächste Akte auf und fand auch hier nach dem Datum der Umsiedlung nur noch Zeichnungen auf den Seiten. Eine nach der anderen öffnete er die Akten, die auf dem Schreibtisch lagen, und entdeckte die ganze Welt des Pianoro, von Rattazzis Stift in allen Einzelheiten minutiös wiedergegeben, unzählige Mosaiksteinchen, aus denen sich ein lebendiges, facettenreiches Bild zusammensetzte. Je länger Beniamino sich in die Zeichnungen vertiefte, desto deutlicher erkannte er, dass sich in ihnen eine große Liebe, eine Poesie ausdrückte, die weit mehr vermitteln konnte als Worte. So las man in Malfattis gesenktem Kopf das Gewicht, das dieser Mann mit sich herumtrug, und er war mit einer Aufmerksamkeit wiedergegeben, die er hinter den Mauern der Irrenanstalt nie erfahren hatte. In den gefalteten Händen Renatinas lag die ganze Unterwürfigkeit, zu der die Krankheit diese Frau zwang, die hier auf dieser Zeichnung Strich für Strich auf die Seite einer Krankenakte übertragen worden war. Und Foscos in den Himmel spähenden Augen hatte Rattazzi eine Sehnsucht einschreiben können, die keine Grammatik brauchte, die pure Freiheit, Luft und Atem war.
Beniamino blätterte die Seiten um, und mit jeder Zeichnung wuchs seine Erregung angesichts dieser Versuche, die Krankheit zu erforschen und auszudrücken, die der alte Arzt ihm hinterlassen hatte. Sein Herz klopfte wild, ihm war tatsächlich, als sähe er sich selbst und den ganzen Pianoro mit Rattazzis Augen, so wie er ihn noch nie gesehen hatte. Diese Blätter schienen ihm einen Schatz zu bergen, der sein Erbe war, der ihn aufforderte, sich wie in einem Spiegel darin zu erkennen und seine alte Haut abzustreifen, sein Innerstes zusammen mit dem Leben der Hausbewohner nach außen zu kehren, so wie Rattazzi selbst es versucht hatte.
Er erschrak über diese Vorstellung, stand auf, verließ das Zimmer und ging in die Küche, um sich noch eine Tasse Kaffee zu holen, in der Hoffnung, ein paar Schlucke des starken Getränks würden ihm helfen, sich von seinem alten Laster der Feigheit zu befreien, von dem Wunsch, innezuhalten, sich irgendwo zu verkriechen und eine Entschuldigung zu haben, um das Abwarten und bloße Reden in die Länge zu ziehen.
Aus den Zimmern hörte man erste Geräusche, die Bewohner erwachten, dieselben Menschen, in deren Inneres er vor wenigen Momenten dank der Zeichnungen Rattazzis hatte blicken können. Die Kaffeetasse noch immer in der Hand, floh Beniamino geradezu auf den Hof, um sich durch das Alleinsein vor seinen
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