Die Residenz des Doktor Rattazzi: Roman (German Edition)
alten Ängsten zu retten, die ihn abermals zu überfallen drohten.
Gegen die Schuppenwand gelehnt, Schluck für Schluck an sein heißes Getränk geklammert, beobachtete er von draußen, wie das Alltagsleben des Hauses wieder in Gang kam: Durch das geöffnete Fenster sah er Elemira am Herd hantieren und Renatina, die schon gebeugten Kopfes am Tisch saß, in die Angst versunken, die sie niemals verließ. Fosco stand wie jeden Morgen da, ohne sich zu rühren, damit der Schlaf langsam von ihm abfiel, während Marzi sich bereits seine Zigarre angezündet hatte und Fosco mit ernster Miene musterte.
Aus einigen Metern Entfernung betrachtet, wirkte der Pianoro tatsächlich wie jene Bühne, die Beniamino in der Nacht vom Mondlicht beleuchtet gesehen hatte, und seine Bewohner waren die Figuren eines Theaterstücks, an dem jeder unwissentlich mitwirkte, indem er versuchte, seinen Part so gut wie möglich zu spielen und den Anforderungen einer Rolle gerecht zu werden, die fast immer andere entworfen hatten.
Von seinem Standort aus konnte er die Gespräche nicht genau verstehen. Er hörte undeutliche Wortfetzen und vergnügte sich eine Weile damit, dem Summen zu lauschen, als wäre es eine Musik. Obwohl er nichts verstand, war ihm dennoch bewusst, dass diese Figuren sich wie im Theater nach einem genauen Plan bewegten, darum wusste er, auch ohne etwas zu hören, was Malfatti tun würde, sobald er in die Küche kam: Er würde sich ans Tischende setzen und darauf warten, dass Elemira ihm etwas zu essen brachte, Mita würde, bevor sie ihre Milch trank, die Serviette mehrmals auseinander- und zusammenfalten, während sie von den Gemeinheiten ihres Vater erzählte, und Fosco, sein Albatros, würde seine Schläfrigkeit abschütteln, indem er ans Fenster ging und in den Himmel spähte, wo er immer einen Vogelschwarm zu sehen hoffte, der ihm zur Flucht verhelfen würde. Und bei jedem, den Beniamino beobachtete, bei jeder Handlung, die diese Person unweigerlich vollführen würde, verspürte er Anteilnahme oder Zärtlichkeit, Furcht oder Misstrauen.
Beniamino schaute zu, und beim Zuschauen wurde ihm bewusst, dass das, was er sah, in ihm die gleichen Empfindungen hervorrief, die Rattazzi in seinen Zeichnungen ausgedrückt hatte, und dass sie direkt auf das Wesen dieser beobachteten und gezeichneten Menschen hinführten. Was immer sich hier auf dieser Bühne abspielte, es verpflichtete ihn dazu, nicht mehr zu verbergen, was sich in diesem Bild offenbarte.
Und so geschah es, das Beniamino, an die Schuppenwand gelehnt, beschloss, sein Leben in die Hand zu nehmen. Er trank zwei große Schlucke Kaffee, atmete tief ein und eilte dann fast laufend auf die große Küche zu. Elemira, die gerade das Brot aufschnitt, sah ihn entschlossen und flink heraneilen und wunderte sich, dass er weniger stark hinkte als sonst.
Beniamino riss die Tür auf und stellte sich vor seine Mutter: »Als Kind habe ich die Verrückten Blumen essen sehen«, sagte er, »und ich sah, wie glücklich sie waren, wenn sie die Rosenblätter kauten.«
Dann ging er zum Kamin, stellte sich vor die Wand und hob eine Hand, wie er es im Hof des Irrenhauses getan hatte, wenn er, Rattazzi und Fosco ihr Lieblingsspiel spielten. Er wünschte, sein alter Lehrer wäre dabei, um ihn in seinem Tun zu bestärken wie ein Regisseur, der seine Schauspieler vor dem ersten Auftritt auf der Bühne ermutigt. Aber Rattazzi war tot, die Scheinwerfer waren erloschen, und an der Küchenwand wuchs keine einzige Rose. Da verspürte Beniamino eine heftige Sehnsucht, die sich in eine Hitzewelle verwandelte, und das starke Gefühl machte ihn benommen. Die Küche verschwand, und die Mauer wurde zu dem Rosenbusch, der am Maschendraht im Hof des Irrenhauses emporrankte. Marzi wunderte sich über Beniaminos seltsames Verhalten und sprach ihn an, doch Beniamino hörte statt dessen Rattazzis Stimme, der seinen Namen sagte. Das munterte ihn auf, er fasste wieder Mut, und es gelang ihm, das Blütenblatt einer Rose abzuzupfen und sich in den Mund zu stecken, um es zu kauen. Sofort bereitete sich eine unbekannte Ruhe in seinem Inneren aus, umfing ihn wie mit einer Umarmung und schenkte ihm jenes Wohlgefühl, nach dem er sich schon als Kind gesehnt hatte, wenn er die Verrückten hinter dem Gitter neiderfüllt beobachtet hatte.
Auch Elemiras Stimme, die besorgt seinen Namen rief, brachte ihn zurück in jene ferne Zeit, als noch gar nichts geschehen war, Ignazio noch seine gute Laune auf den Märkten und zu Hause
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