Die Residenz des Doktor Rattazzi: Roman (German Edition)
geschehen war, und alle hatten in jener Geste, mit der der Arzt Beniamino zu sich herangewinkt hatte, die Übergabe einer Verantwortung und eine Unterweisung sehen wollen. Der Schmerz über diesen plötzlichen Tod, die Angst vor dem, was sie erwartete, hatten in ihnen die stillschweigende Überzeugung genährt, dass es dem Doktor in jenen letzten Minuten möglich gewesen war, seinem jungen Mitarbeiter den Schlüssel zu seinen Plänen und zukünftigen Maßnahmen mitzuteilen, also die Quintessenz all dessen, was er in diesem Häuschen auf dem Land so optimistisch und enthusiastisch aufzubauen begonnen hatte.
Von Marzis Bericht bestärkt, hatten die Hoffnungen der Bewohner des Pianoro sich auf Beniamino gerichtet und wirkten nun wie ein Trost, der die Gemüter erleichterte. Allen, die diese irrige Überzeugung teilten, gab sie die nötige Ruhe, den schwierigen Moment zu überstehen.
Darum suchte Beniamino im nächtlichen Dunkel nach einer Lösung, um den kommenden Tag zu meistern, der bald anbrechen würde. Ein weiterer Tag mit den beschädigten Leben seiner Kranken, die im Pianoro noch immer eine Zuflucht vor dem Wahnsinn und dem aus der Schlucht heraufkommenden Tod suchten. Doch aus der Stille der Nacht kam ihm nur ein scheinbarer Friede entgegen, der ihn noch mehr ängstigte und das Gefühl der Unfähigkeit, das sich seiner erneut bemächtigt hatte, nur steigerte.
Während er vergebens in die Stille horchte, spürte er plötzlich jemanden neben sich. Ein beschleunigter Atem, das Zittern eines Körpers, das sich auf ihn übertrug, als er ihn streifte.
Es war Fosco. Seine zusammengekniffenen Augen, seine wachsende Erregung zeigten, dass er kurz davor war, in seine Abgründe zu stürzen, die dunkler waren als die Nacht vor dem Fenster.
Beniamino legte einen Arm um die Schultern des Jungen. Fosco sprach abgehackt, die Angst fraß an seiner Stimme.
»Sie haben Rattazzi getötet«, sagte er.
»Nein, mein Freund. Sein Herz ist stehengeblieben«, entgegnete Beniamino.
»Warum?« fragte der Albatros.
»Weil er alt war.«
»Warum?«
»Er hat sich überanstrengt, Fosco.«
»Warum?« fragte der Junge wieder.
Beniamino wollte schon antworten, doch dann verstand er, dass diese Frage keine logische Antwort bekommen konnte, weil es keine Logik gab und weil Fosco im Grunde nichts anderes fragte als das, was er selbst sich in diesen schlaflosen Stunden am Fenster angesichts des Dunkels einer beunruhigenden Nacht gefragt hatte.
Vom Hügel her, dort, wo die Straße in einer Kurve zurück zur Schlucht führte, brach ein silbriger Schein durch die schwarze Finsternis, in der Beniamino bis jetzt keine Antwort hatte finden können, und kündigte den aufgehenden Mond an. Langsam verbreitete sich sein Licht, tauchte die Anhöhen in einen weichen Schimmer, ließ die Umrisse jeder einzelnen Zypresse scharf hervortreten und breitete am Horizont einen Schleier aus zarten, unwirklichen Farben aus, als wäre dieser Ort das Bühnenbild eines Theaters. Auf dieser Bühne sah Beniamino die Leben der Verrückten vorüberziehen, er sah, wie sie sich nach einer Choreographie bewegten, rezitierten und von sich erzählten, und dabei durften sie endlich unlogisch und irrsinnig, poetisch und wunderlich, aber auch zutiefst traurig sein, wie ein Spiegel des Dunkels, das der Mond nach und nach auflöste, um das wahre Wesen dieser Menschen zu zeigen.
Während die weiße Scheibe über dem Pianoro aufstieg und Fosco sein unablässiges »Warum?« wie das rhythmische Klopfen eines Hammers hervorstieß, umarmte Beniamino seinen verrückten Freund und entschloss sich endlich, ihm und sich selbst zu antworten: »Weil Rattazzi mich gelehrt hat, wie ich dich beschützen kann.«
V ON DER A NTWORT getröstet, die er sich selbst gegeben hatte, fiel Beniamino in einen kurzen Schlaf und erwachte am Morgen so ausgeruht, als hätte er lange und fest geschlafen.
In den Worten, mit denen er Foscos Angst beruhigt hatte, schien eine Entscheidung verborgen, die er fast unwillkürlich ausgesprochen hatte, ohne ihre Bedeutung ganz zu verstehen. Er wusste nur, dass er die Verantwortung auf sich genommen hatte, die Rattazzi ihm, das war ihm jetzt klar, sterbend übertragen hatte.
Diese Gewissheit spürte er stark, sie war ebenso klar wie die Erinnerung an das Bild des vom silbernen Mondlicht bühnenhell beleuchteten Pianoro, also hielt er beides fast zärtlich fest, dieses Bild und diese Gewissheit, trug sie in sich während der ersten Handgriffe des Tages und nährte
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