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Die Residenz des Doktor Rattazzi: Roman (German Edition)

Die Residenz des Doktor Rattazzi: Roman (German Edition)

Titel: Die Residenz des Doktor Rattazzi: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ugo Riccarelli
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schon wachsende Besorgnis mischte, die gleiche, die er in Marzis starrem Blick las, während sie schweigend ihre gemeinsame Suche fortsetzten. Sie empfanden auch keine Erleichterung, als sie hinter der Marienkapelle, gut zwei Kilometer vom Haus entfernt, Malfatti am Straßenrand sitzen sahen, sich vor und zurück wiegend, wie er es immer tat, wenn er Zuflucht vor seinen eigenen Gedanken nahm.
    Rattazzi lag neben ihm auf dem Rücken, als würde er ausruhen, er, der sich nicht einmal auszuruhen schien, wenn er wirklich schlief. Marzi begriff, und eine tiefe Furcht, eine Art Respekt ließ ihn wenige Schritte vor dem Doktor anhalten. Beniamino aber, dem das Herz bis zum Hals klopfte, beschleunigte seinen hinkenden Gang noch mehr, fast rannte er, blieb dann vor Rattazzi stehen, beugte sich über den Freund, nahm seinen Kopf in die Hände und rief seinen Namen, eher um sich selbst Mut zuzusprechen als diesem Mann, der mit geschlossenen Augen liegenblieb.
    Als er ihm die Arme um die Schultern legte, spürte er ein leichtes Zittern. Er beugte sich tiefer über den Arzt und hörte ein schwaches Röcheln.
    »Dottore«, sprach er ihn abermals an, und seine Stimme bebte vor Angst.
    Rattazzi war offenbar erwacht, er schlug die Augen auf und lächelte ihn an. Dann hob er eine Hand und machte Beniamino ein Zeichen, er solle sein Ohr dicht vor seinen Mund halten. Der Arzt schien dem jungen Aufseher etwas zuzuflüstern.
    Während Malfatti noch immer schaukelnd und murmelnd auf dem Boden saß, stand Marzi aufrecht und starr vor der Marienkapelle. Er war kein zartbesaiteter Mann, der leicht zu rühren war. Er war in Abessinien bei den Eroberungsfeldzügen des Reiches dabeigewesen. Grausame Gemetzel und Tote hatte er zu Dutzenden gesehen, es war also nicht der Tod an sich, der ihn verstörte. Doch jetzt stand er dort, nach dem Laufen noch immer ein wenig keuchend, neben sich Malfatti, ringsumher die friedlichen grünen Wiesen, die Marienkapelle, die wie gemalt wirkte, Rattazzi, der auf dem Straßenschotter lag, und Beniamino, über ihn gebeugt, um irgendwelche Worte zu erhaschen, die sehr leise geflüstert wurden, wie um den Frieden ringsum nicht zu stören.
    Marzi war nicht so leicht gerührt, doch an diesem Tag, auf der Straße hinunter zur Schlucht, spürte er einen Klumpen aus Pech mitten in seiner Brust, der sich löste und ihm in die Kehle stieg, wo er ihm den Atem nahm, so dass Marzi den Mund öffnen und tief einatmen, die Augen zum Himmel heben und in das reine, wolkenlose Blau schauen musste, damit er den sterbenden Doktor Rattazzi nicht sah.

B ENIAMINO HIELT R ATTAZZIS Kopf zwischen seinen Händen und weinte. Auf dem Schotter kniend, an seiner Seite Marzi, der in die Ferne starrte, und Malfatti, der sich, in seine Angst verkapselt, vor und zurück wiegte, versuchte Beniamino mit seinen Tränen den Schmerz freizusetzen, den dieser neuerliche Verlust ihm bereitete.
    Ein zweites Mal, wie bei Ignazio, war der Tod völlig unerwartet gekommen, um Beniamino ein Ziel wegzunehmen, das er nah vor Augen gehabt hatte. Er war in die Küche des Häuschens neben der Irrenanstalt eingedrungen und hatte ihm den Vater genommen, um ihn mit der Bürde der Familie und dem Gespenst einer Promotion zurückzulassen. Und jetzt hatte er Rattazzis Herz zerrissen und sich mit Rattazzi auch den Traum geholt, gemeinsam etwas aufzubauen, von dem Beniamino einstweilen nur eine vage Vorstellung hatte.
    Sein Weinen war der Versuch, eine schwere Verantwortung zu verscheuchen, die er mit jeder Minute näher kommen fühlte, so wie er gefühlt hatte, dass ihm das Leben des Arztes allmählich aus den Händen glitt. Hinter den sanften Kurven der Straße warteten Marcella, Elemira, Fosco, Renatina und die anderen im Haus darauf, dass er mit Malfatti und Rattazzi zurückkam, damit sie sich alle wieder um den großen Küchentisch setzen und ihr seltsames Familienleben fortsetzen konnten. Im Grunde waren sie ja tatsächlich eine Familie, denn niemals zuvor hatten sie so stark empfunden, dass alle in diesem Haus, auf diesen Stühlen, um den gedeckten Tisch herum ein gemeinsames Schicksal verband, dass etwas, was sie nicht recht hätten benennen können, was aber da war, zwischen ihnen, gegenwärtig und stark, sie zu nahen Verwandten machte.
    In diesem Haus hatte das zahnlose Lächeln von Renatina eine neue Bedeutung bekommen, ebenso wie Foscos Herumrennen oder Giovannis Gespräche mit Gott. Auch alle anderen Gespenster, die zuvor in einem Rechteck aus hohen Mauern

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