Die Residenz des Doktor Rattazzi: Roman (German Edition)
fühlte sich einsam, es war ihm bewusst, dass seine eigenen Ängste zum Greifen nah vor ihm waren.
Als er die Augen öffnete, erblickte er die Kletterpflanze, die an der Hauswand emporrankte, Glockenblumen, die wegen der Nacht noch geschlossen waren, aber bereit, sich zu öffnen, sobald das erste Sonnenlicht sie berührte. Er sah sie und lächelte, denn diese kleinen Blumen erschienen ihm wie Rattazzis Stimme, nach der er sich sehnte. Also streckte er eine Hand aus, um ein paar Blüten abzuzupfen und zu kauen und in diesem albernen Spiel das Gefühl der Liebe und Freundschaft wiederzufinden, das sie noch im Tod verband.
Als wäre diese Geste ein Ruf gewesen, tauchte Fosco schon bald an seiner Seite auf, und so wie er sich im Hof des Irrenhauses zwischen Beniamino und Rattazzi gesetzt hatte, um die Rosen zu kauen, den Gesprächen und dem Schweigen der beiden zuzuhören, zupfte er jetzt ein paar der Glockenblumen ab und begann sie zu kauen.
Seine Hände zitterten noch, und das Dunkel war nicht aus seinem Blick gewichen. Doch er hatte das Seil ergriffen, das über dem Ozean baumelte, und an ihm hievte er sich langsam in Sicherheit, neben Beniamino, auf die Bank.
»Es ist nicht wahr«, sagte er nach einer Weile stockend mit belegter Stimme, »dass Doktor Rattazzi dich gelehrt hat, mich zu beschützen.«
In seiner Erinnerung sah Beniamino sich über den Leichnam des Arztes gebeugt, dann am Fenster seines Zimmers stehen und den Mond betrachten, der über dem Hügel aufging, neben sich Fosco, der vor Angst zitterte.
»Er hat mich gelehrt, es zu versuchen, Fosco.«
»Versuchen, versuchen, versuchen«, wiederholte der Junge nuschelnd.
»Hör zu. Keiner weiß, wie man dem Dunkel entkommt. Aber wir können es versuchen. Wir können eine Kerze anzünden oder Blütenblätter kauen.« Beniamino hob ein paar Blütenblätter und hielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger hoch, als erhöbe er ein Glas zum Trinkspruch.
Fosco lächelte. Er streckte eine Hand nach der Pflanze aus und riss noch eine Blüte ab.
»Dottore, warum sterben wir?« fragte er plötzlich.
»Das weiß ich nicht. Wir wissen nicht, warum wir sterben, Fosco. Und vielleicht wissen wir deshalb auch nicht, warum wir leben. Aber ich glaube nicht, dass wir Angst vor dem Tod haben müssen, mein Freund.« Kaum hatte er den Satz beendet, merkte er, dass er ihn vor allem zu sich selbst gesprochen hatte.
Er hob die Augen. Im Osten erschien das Licht der aufgehenden Sonne, und dieser Anblick machte ihm Mut, er fühlte sich fast erleichtert.
»Ich habe Angst«, sagte Fosco. »Vor dem Krieg«, fuhr er fort und spuckte das Wort aus, als müsste er sich davon befreien.
Er legte sich die Hände vor die Augen.
»Er ist dunkel«, sagte er.
»Fosco, die Menschen haben das Dunkel und das Licht in sich.«
»Ich weiß«, murmelte der Junge mit gesenkten Augen, »und wenn das Dunkel kommt, habe ich Angst.«
»Alle haben wir Angst davor, denn es kommt aus dem tiefsten Grund der Menschen, von dort, wo wir unsere schlimmsten Gedanken verstecken.«
Fosco nickte wieder.
»Es gefällt mir nicht«, sagte er. »Der Deutsche hat den Professor getötet.«
Beniamino zog den Jungen an sich, nahm ihn in die Arme, und endlich spürte er, wie Foscos Aufregung ein wenig nachließ.
»Der Krieg hat seine Regeln, Fosco, genauso wie die Spiele, die wir hier im Pianoro spielen«, sagte er.
»Aber der Professor wollte nicht Krieg spielen.«
Beniamino fielen Gedanken ein, die Rattazzi ihm oft anvertraut hatte, und er fuhr fort: »Das stimmt, aber hier legen wir die Regeln fest, und das tun wir, damit wir vor dem Dunkel fliehen können, damit Malfatti aufhört, sich zu quälen, oder damit wir alle zusammen mit Giovannis Gott sprechen können. So lassen wir das frei, was uns bedrückt, wir schicken es auf den Hof wie die Hühner, damit es ein bisschen herumläuft und Luft bekommt. Der Krieg jedoch hat seine eigenen Gesetze, und sie sind schrecklich, denn sie dienen nur dazu, den Menschen Leid zuzufügen, sie einzusperren und zu töten. Weißt du, es gibt einen Ausdruck dafür, der den Sinn dieser Sache erklärt. Es heißt, dass man sich im Krieg verhalten soll wie im Krieg, man muss seine Spielregeln befolgen. Denn Krieg ist eben Krieg.«
»Krieg ist Krieg«, murmelte Fosco vor sich hin.
»Ich bin sicher, dass der Professor nicht mit dem Deutschen Krieg spielen wollte. Und wenn er es getan hätte, hätte er die Dichtung benutzt, er hätte sich in einen tapferen Achilles verwandelt«, sagte
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