Die Rettung Raphael Santiagos: Die Chroniken des Magnus Bane (6) (German Edition)
früher wahrscheinlich auch eines der prunkvollsten im ganzen Hotel gewesen. Wäre dies immer noch ein Hotel nach normalen Maßstäben gewesen, hätte der Bewohner dieser Suite allerdings wohl in erheblichem Umfang für die entstandenen Schäden aufkommen müssen. In der Decke prangte ein Loch. Sie war seinerzeit babyblau gestrichen worden, so blau wie Wanderdrosseleier oder der Sommerhimmel, wie man ihn sich in Künstlerkreisen gemeinhin vorzustellen schien.
Der echte Sommerhimmel war durch das Loch in der Decke zu erkennen, weißglühend und so gnadenlos wie der anhaltende Hunger, der Karnstein antrieb. Er leuchtete so hell wie die Fackel in der Hand eines Mannes, der einem Monster entgegentritt.
Der Boden war mit Staub bedeckt, den allerdings nicht allein die Zeit dorthin befördert hatte, wie Magnus vermutete. Überall Staub und überall Leichen: Wie nachlässig beiseitegeworfene Lumpenpuppen lagen sie teils übereinander, teils ausgebreitet auf dem Boden oder gegen die Wand gedrückt. Magnus musste an zertretene Spinnen denken. Der Tod kannte keine Anmut.
Darunter waren auch die Leichen der Teenager, die sich voller Eifer versammelt und furchtlos auf die Jagd nach dem Raubtier gemacht hatten, das ihr Viertel unsicher machte. Die in ihrer Unschuld geglaubt hatten, das Gute werde siegen. Daneben lagen noch andere Leichen; ältere Leichen von ganz jungen Kindern. Die Leichen der Kinder, die Louis Karnstein aus Raphael Santiagos Viertel geraubt, getötet und dann behalten hatte.
Für diese Kinder kommt jede Rettung zu spät, dachte Magnus. In diesem Raum gab es nichts als Blut und Tod, nichts als das zurückgebliebene Echo der Furcht, das Ende aller Hoffnung auf Erlösung.
Louis Karnstein war offensichtlich verrückt. Das kam schon einmal vor, dass sich ein Schattenweltler mit zunehmendem Alter immer weiter von der Menschheit entfernte. Vor gerade einmal dreißig Jahren war Magnus selbst Zeuge geworden, wie dies einem seiner Hexenmeisterkollegen widerfahren war.
Sollte er selbst irgendwann einmal so verrückt werden, dass er seine gesamte Umgebung ins Verderben stürzte und jeden verletzte, mit dem er in Berührung kam, dann hoffte Magnus, jemanden an seiner Seite zu haben, der ihn so sehr liebte, dass er dem ein Ende setzte. Ihn tötete, wenn es nicht anders ging.
Die schmutzigen blauen Wände waren über und über mit Blutspritzern und blutigen Handabdrücken bedeckt. Auf dem Boden hatten sich dunkle Lachen gebildet. Das Blut stammte von Menschen und von Vampiren: Vampirblut war von einem tieferen Rot, das auch dann noch rot blieb, wenn es trocknete – bis in alle Ewigkeit. Magnus schlängelte sich zwischen den Blutflecken hindurch, doch dann entdeckte er in einer menschlichen Blutlache etwas Glitzerndes. Obwohl es nahezu vollständig überschwemmt war, funkelte es doch stur weiter und erregte so Magnus’ Aufmerksamkeit.
Magnus beugte sich vor und angelte das glänzende Etwas aus der dunklen Pfütze. Es war ein kleines, goldenes Kreuz. Wenigstens das würde er Guadalupe zurückbringen können, dachte er bei sich und steckte es ein.
Magnus machte einen vorsichtigen Schritt und dann noch einen. Das lag bloß daran, dass er sich nicht sicher war, ob ihn der Boden tragen würde, versuchte er, sich einzureden. Aber er wusste selbst, dass das nur ein Vorwand war. Zwischen all den Toten wollte er einfach nicht schneller gehen.
Doch plötzlich blieb ihm keine andere Wahl.
Aus einer dunklen Ecke am anderen Ende des Zimmers hörte er ein widerliches, gieriges Saugen. Dann entdeckte er den Jungen in den Armen eines Vampirs.
Magnus hob die Hand und mit der Macht seiner Magie schleuderte er den Vampir durch die Luft und ließ ihn gegen eine der blutbeschmierten Wände prallen. Magnus hörte ein Krachen und sah, wie der Vampir zu Boden sackte. Dort würde er allerdings nicht lange verharren.
Über Leichen stolpernd und über Blutpfützen rutschend rannte Magnus quer durch den Raum, sank vor dem Jungen auf die Knie und barg ihn in seinen Armen. Er war noch jung, fünfzehn oder sechzehn, und lag im Sterben.
Magnus besaß nicht die Fähigkeit, in einen Körper neues Blut hineinzuzaubern, erst recht nicht, wenn dieser Körper gerade unter dem Verlust desselben kollabierte. Mit einer Hand stützte er den herabhängenden Kopf des Jungen und beobachtete seine flatternden Lider. Er hoffte darauf, dass der Junge noch einmal die Augen öffnen und ihn ansehen würde, damit er sich von ihm verabschieden konnte.
Doch der
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