Die Rettung Raphael Santiagos: Die Chroniken des Magnus Bane (6) (German Edition)
unterdrücken konnte, dass er in der Lage war, an irgendetwas anderes zu denken als das eine: Essen. Kurz ging ihm durch den Kopf, ob Raphael wohl mehr als einen seiner Freunde getötet hatte.
Er wagte nicht zu fragen. Zum einen wäre es grausam gewesen und zum anderen war ihm klar: Selbst wenn Raphael sie getötet und sich erst danach gegen seinen Meister Karnstein gewandt und ihn bezwungen hatte, musste er über einen eisernen Willen verfügen.
»Sie sind alle tot«, bemerkte Raphael, der so langsam seine Fassung zurückzugewinnen schien. Seine Stimme war mit einem Mal klar. Und auch seine Augen waren klar, als er Magnus anstarrte und sich dann plötzlich von ihm abwandte. Der Hexenmeister war nicht länger von Bedeutung, signalisierte er damit.
Magnus hatte ein ungutes Gefühl, als er sah, wie Raphael das gleißende Licht betrachtete, das aus dem Loch in der Decke in den Raum drang. Darauf hatte er auch gezeigt, als er erzählt hatte, dass Karnstein zu Asche zerfallen war.
»Sie sind alle tot«, wiederholte Raphael langsam. »Und ich auch.«
So geschmeidig wie eine Schlange federte er aus seiner Kauerhaltung empor und sprang ab.
Magnus war Raphaels Blick gefolgt. Und er wusste auch genau, wie der Junge sich fühlte; diesen erlesenen Schmerz, der mit der Erkenntnis einherging, ein Außenseiter zu sein, so allein, dass man daran beinahe zugrunde ging, kannte er selbst nur zu gut. Nur deshalb konnte er schnell genug reagieren.
Raphael stürzte auf den tödlichen Lichtfleck am Boden zu und Magnus stürzte sich auf Raphael. Kurz bevor der Junge das Sonnenlicht erreicht hatte, riss Magnus ihn zur Seite.
Raphael stieß einen wilden, raubvogelartigen Schrei aus. Einen Schrei voller Wut und Hunger, der in Magnus’ Kopf widerhallte und ihm Schauer über den Rücken jagte. Währenddessen schlug Raphael wie wild um sich und versuchte weiter, ins Sonnenlicht zu kriechen. Als er merkte, dass Magnus ihn nicht losließ, setzte er all seine neugewonnene Vampirkraft ein, um sich mit Zähnen und Klauen aus der Umklammerung zu befreien. Normalerweise brauchten Vampirfrischlinge eine Weile, bis sie sich mit ihrer neuen Kraft vertraut gemacht hatten und damit umgehen konnten. Bei Raphael war davon nichts zu sehen. Kein Zögern, keine Reue. Er versuchte, Magnus die Kehle zu zerbeißen. Er versuchte, ihm die einzelnen Glieder rauszureißen. Nur mithilfe von Magie gelang es Magnus, Raphael unter sich am Boden zu halten, und selbst dann noch musste er sich höllisch vor seinen Fangzähnen in Acht nehmen.
»Lass mich los!«, brüllte der Junge schließlich mit brechender Stimme.
»Schsch, ganz ruhig«, flüsterte Magnus. »Deine Mutter hat mich hergeschickt, Raphael. Ganz ruhig. Deine Mutter hat mich gebeten, dich zu suchen.« Er zog das goldene Kreuz aus seiner Tasche und hielt es Raphael vors Gesicht. »Sie hat mir hiervon erzählt und mich gebeten, dich zu retten.«
Raphael zuckte vor dem Kreuz zurück und Magnus steckte es schnell wieder weg. Der Junge hatte inzwischen alle Gegenwehr aufgegeben und stattdessen angefangen, hemmungslos zu weinen. Sein ganzer Körper bebte unter seinen Schluchzern, so als könne er sich von innen heraus von sich selbst, seinem neuen, verhassten Ich befreien, wenn er nur feste rüttelte und schüttelte.
»Bist du blöd?«, brachte er keuchend hervor. »Du kannst mich nicht retten. Das kann niemand.«
Magnus konnte seine Verzweiflung sogar schmecken. Sie schmeckte wie Blut. Magnus glaubte ihm. Er hielt den Jungen in den Armen, den Blut und Graberde neu geboren hatten, und wünschte sich, er hätte ihn tot aufgefunden.
Das viele Weinen hatte Raphael schließlich erschöpft und fügsam gemacht. Magnus nahm ihn mit nach Hause, denn er hatte nicht die leiseste Ahnung, was er sonst mit ihm anfangen sollte.
Jetzt saß Raphael wie ein Häufchen Elend auf Magnus’ Sofa.
Normalerweise hätte er Magnus furchtbar leid getan. Allerdings hatten sie unterwegs an einer Telefonzelle Halt gemacht, von der aus Magnus in dem kleinen Jazzclub angerufen hatte, in dem Etta an diesem Abend auftreten sollte. Er ließ sie wissen, dass sie eine Weile lieber nicht bei ihm vorbeikommen sollte, weil er sich um einen Babyvampir kümmern musste.
»Ein Babyvampir, hm?«, hatte Etta lachend erwidert. Wie eine Frau, die über ihren Mann lachte, der ständig den verrücktesten Kram vom Trödelmarkt anschleppte. »Ich kenne leider in der ganzen Stadt keinen einzigen Schädlingsbekämpfer, der dir in dieser Angelegenheit
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