Die Rettung Raphael Santiagos: Die Chroniken des Magnus Bane (6) (German Edition)
Junge öffnete weder die Augen noch sprach er. Er umklammerte Magnus’ Hand. Wahrscheinlich war es nur ein Reflex, ähnlich wie der Greifreflex eines Babys, aber Magnus hielt ihn trotzdem fest und versuchte, dem Jungen so gut wie möglich beizustehen.
Der Junge atmete ein und aus, ein und aus, ein und aus, dann erschlaffte seine Hand.
»Weißt du wenigstens, wie er hieß?«, fragte Magnus den Vampir, der ihn getötet hatte, scharf. »War das Raphael?«
Er war sich selbst nicht sicher, warum er das fragte. Er brauchte keine Bestätigung dafür, dass der Junge, zu dessen Rettung ihn Guadalupe geschickt hatte, gerade in seinen Armen gestorben war. Dass der letzte der hehren Truppe, die ausgezogen war, um das Leben Unschuldiger zu retten und sich damit selbst ins Verderben gestürzt hatte, beinahe lang genug überlebt hatte – aber eben nur beinahe. Der flehende Blick in Guadalupe Santiagos Augen ging ihm nicht mehr aus dem Kopf.
Er sah zu dem Vampir hinüber, der keine Anstalten machte, ihn anzugreifen, sondern immer noch an dieselbe Wand gelehnt saß, an die Magnus’ Zauberkraft ihn befördert hatte.
»Raphael«, antwortete der Vampir langsam. »Du bist hergekommen, um nach Raphael zu suchen?« Sein Auflachen klang beinahe ungläubig.
»Und warum ist das so komisch?«, wollte Magnus wissen. In seiner Brust stieg ein finsterer Zorn auf. Es war lange her, dass er einen Vampir getötet hatte, aber er war nur allzu bereit, es wieder zu tun.
»Weil ich Raphael Santiago bin«, antwortete der Junge.
Magnus starrte den Vampirjungen – Raphael – an. Er hatte die Knie an die Brust gezogen und die Arme darum geschlungen. Unter seinen wilden Locken kam ein feines, herzförmiges Gesicht zum Vorschein, das dem seiner Mutter zum Verwechseln ähnlich war, mit großen dunklen Augen, mit denen er später einmal Frauen – oder Männer – hätte verzaubern können, und ein weicher, kindlicher Mund, der blutverschmiert war. Die ganze untere Hälfte seines Gesichts war voller Blut. Magnus sah die weißen Zähne, die sich gegen seine Unterlippe abhoben und in der Dunkelheit wie Diamanten funkelten. Raphael war das Einzige, was sich in diesem grauenhaften Raum bewegte. Er zitterte so heftig, dass Magnus erkennen konnte, wie ein Schauer nach dem anderen seinen schmalen Körper durchschüttelte. Es sah regelrecht gewalttätig aus. Seine Zähne klapperten vor jener Art von Kälte, die nur jemand spüren konnte, der kurz davor stand, in die Stille und den Tod hinüberzugleiten. In dieser Totenkammer war es so heiß, wie sich die Irdischen die Hölle vorstellten, aber der Junge zitterte, als könnte ihm niemals im Leben wieder warm werden.
Magnus stand auf, bahnte sich vorsichtig einen Weg durch den Staub und zwischen den Toten hindurch, und als er den jungen Vampir erreicht hatte, fragte er sanft: »Raphael?«
Beim Klang seiner Stimme hob Raphael den Kopf. Magnus hatte schon viele Vampire gesehen, deren Haut so weiß wie Salz war. Raphaels Haut war noch braun, aber sie hatte nicht mehr den warmen Farbton seiner Mutter. Das war nicht länger die Haut eines lebenden Jungen.
Für Raphael kam jede Hilfe zu spät.
Seine Hände waren schmutz- und blutverkrustet, so als sei er erst vor Kurzem seinem eigenen Grab entstiegen. Auch das Gesicht war mit Graberde beschmiert. Er hatte schwarzes Haar, volle, weiche Locken, durch die seine Mutter bestimmt immer gerne mit den Fingern gestrichen hatte. Die sie gestreichelt hatte, wenn er Albträume gehabt und nach ihr gerufen hatte. Die sie ganz sachte berührt hatte, wenn er in seinem Bett schlief und sie ihn nicht wecken wollte. Ganz sicher bewahrte sie noch ein Babylöckchen auf.
Dieses Haar war jetzt voller Totenstaub.
Rote Tränenspuren schimmerten dunkel auf seinem Gesicht. Auch an seinem Hals klebte Blut, aber Magnus wusste, dass die Wunde bereits verheilt war.
»Wo ist Louis Karnstein?«, fragte Magnus.
Diesmal antwortete Raphael in leisem, weichem Spanisch: »Der Vampir dachte, ich würde ihm mit den anderen helfen, wenn er mich in einen von seiner Sorte verwandelt.« Plötzlich lachte er auf. Es klang beinahe fröhlich und irgendwie verrückt. »Aber das habe ich nicht«, fügte er hinzu. »Nein. Damit hat er nicht gerechnet. Er ist tot. Zu Asche zerfallen und dann hat der Wind seine Überreste davongetragen.« Er deutete auf das Loch in der Decke.
Magnus war sprachlos. Es war äußerst ungewöhnlich für einen neugeborenen Vampir, dass er bei seinem Erwachen den Hunger so weit
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