Die Revolution der Ameisen
würden.«
»Nein!« widersprach Julie vehement. »Gerade weil die Ameisen so unbedeutend zu sein scheinen, sind sie die beste Referenz. Es liegt an uns, ein verkanntes Insekt ins rechte Licht zu rücken.«
Die anderen waren noch nicht überzeugt.
»Die Enzyklopädie enthält jede Menge Texte über die Ameisen.«
Dieses Argument schlug ein. Wenn sie schon in größter Eile neue Lieder komponieren mußten, könnten sie sich des Themas bedienen, das in der Enzyklopädie am häufigsten vorkam.
»Ich bin mit ›Die Ameisen‹ einverstanden«, sagte David.
Alle nickten zustimmend.
»Und jetzt entwerfen wir das Plakat.«
David setzte sich an den Computer und wählte eine Schrift aus, die den Buchstaben auf alten Pergamenten ähnlich sah.
Rote verschnörkelte Großbuchstaben, schwarze Kleinbuchstaben, weiß umrandet.
Als Emblem ihrer Gruppe bot sich das Titelbild der Enzyklopädie an: Drei Ameisen, die in einem Dreieck ein Ypsilon bildeten, wobei das Dreieck seinerseits von einem Kreis umgeben war.
Auf dem Bildschirm sah ihr Plakatentwurf wirklich wie ein altes Pergament aus. Oben stand: »Die Ameisen«, darunter in Klammern: Neuer Name der Gruppe »Schneewittchen und die Sieben Zwerge«, damit ihre ersten Fans sich zurechtfanden.
Unter dem Emblem: »Samstag, 1. April, Konzert im Kulturzentrum von Fontainebleau.«
Und darunter in Großbuchstaben: DIE REVOLUTION DER
AMEISEN.
Zoé machte zweitausend Fotokopien in Farbe, und Ji-woong bat seine kleine Schwester, die Plakate überall in der Stadt an Ladentüren und Mauern anzukleben. Unter der Bedingung, daß sie und ihre Helferinnen Freikarten bekämen, erklärte sich das Mädchen dazu bereit.
»Stellen wir etwas wirklich Spektakuläres auf die Beine!«
rief Francine.
»Ja, mit Spezialeffekten bei Beleuchtung und Dekoration«, nickte Paul.
»Ich könnte aus Styropor ein Buch von einem Meter Höhe fabrizieren«, schlug Léopold vor.
»Großartig«, meinte David. »In der Mitte müßte eine bewegliche Seite sein. Wenn wir dann Dias darauf projizieren, bekommen die Zuschauer den Eindruck, als würden Seiten gewendet.«
»Und ich baue eine Ameise, die mindestens zwei Meter groß wird«, versprach Ji-woong.
Paul regte an, Duftstoffe zu versprühen, die zu den jeweiligen Liedern paßten: Lavendel-oder Erdgeruch, Jod-oder Kaffeegeruch, alles war möglich, und er traute sich durchaus zu, diese olfaktorische Kulisse zu schaffen, weil er sich von jeher sehr für Chemie interessiert hatte.
Narcisse wollte Kostüme entwerfen und sich als Maskenbildner betätigen.
Als die Probe dann endlich begann, kam David bei seinem Solo völlig durcheinander. Auch den anderen waren störende Nebengeräusche aufgefallen, aber alle hielten das Zirpen zunächst für einen Defekt im Verstärker. Erst als Paul den Schaden beheben wollte, entdeckte er eine Grille, die sich neben dem Transformator häuslich eingerichtet hatte, weil sie Wärme liebte.
David kam auf die Idee, das kleine Mikrofon zu nehmen, das an einer seiner Harfensaiten angebracht war, und es an den Flügeldecken des Insekts zu befestigen; dann, nachdem Paul das Gerät justiert hatte, waren bizarre Töne zu hören.
»Ich glaube, jetzt haben wir endlich den perfekten Musiker für die ›Revolution der Ameisen‹ gefunden«, lachte David.
88. ENZYKLOPÄDIE
Die Zukunft gehört den Schauspielern: Die Zukunft gehört den Schauspielern. Sie verstehen es, Zorn zu mimen, um respektiert zu werden, Freude zu mimen, um Neid zu erregen, Liebe zu mimen, um umworben zu werden. Alle Berufe sind von Schauspielern infiltriert.
Die Wahl von Ronald Reagan zum Präsidenten der USA im Jahre 1980 hat die Herrschaft der Schauspieler endgültig gefestigt. Es ist überflüssig, Ideen zu haben oder etwas vom Regieren zu verstehen – es genügt durchaus, sich mit einer Riege von Spezialisten zu umgeben, die Reden schreiben können, und dann braucht man nur noch seine Rolle vor den Kameras überzeugend zu spielen.
In den meisten modernen Demokratien ist für die Wahl eines Kandidaten sowieso nicht mehr dessen politisches Programm entscheidend (schließlich weiß mittlerweile jeder, daß Wahlversprechen nicht eingehalten werden, weil das Land in eine globale Politik eingebunden ist, von der es nicht abweichen kann), sondern sein Auftreten, sein Lächeln, seine Stimme, sein Kleidungsstil, sein Umgang mit Medienvertretern, seine geistreichen Bemerkungen etc.
Schauspieler haben in allen Berufen erheblich an Boden gewonnen. Ein Maler,
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