Die Revolution der Ameisen
der ein guter Schauspieler ist, macht allen weis, seine einfarbige Leinwand sei ein Kunstwerk. Ein Sänger braucht keine Stimme zu haben, wenn er seinen Clip nur publikumswirksam präsentiert. Schauspieler regieren die Welt. Dadurch bekommt der Schein die Oberhand über das Sein. Es kommt nicht mehr darauf an, was jemand sagt (niemand hört ihm zu), sondern nur darauf, wie er es sagt, welche Miene er dabei aufsetzt, und ob seine Krawatte zum Brusttuch paßt. Menschen, die zwar Ideen haben, sich aber nicht in Pose setzen können, werden in zunehmendem Maße von Debatten ausgeschlossen.
EDMOND WELLS,
Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens, Band III
89. WASSERFÄLLE
Der Wasserfall!
Die Ameisen richten erschrocken ihre Fühler auf.
Bis jetzt hat die sanfte Strömung ihr Boot friedlich am Ufer entlang getragen, doch nun wird es immer schneller. Sie nähern sich den Stromschnellen.
Die Kieselsteine, die aus dem Wasser ragen, tragen weiße Schaumkronen. Das Brausen ist ohrenbetäubend. Die rosa Blüten der Seerose knattern wie geblähte Segel.
Prinzessin Nr. 103, der ihre Antennen ums Gesicht flattern, gestikuliert wild, daß man weiter nach links steuern müsse, wo die Strömung nicht ganz so reißend zu sein scheint. Die Wasserkäfer werden gebeten, ihre Waden viel schneller zu bewegen, und die größten Ameisen schnappen sich lange Zweige, halten sie mit den Mandibeln fest und benutzen sie als Bootshaken.
Nr. 13 fällt ins Wasser und kann in letzter Sekunde gerettet werden.
Kaulquappen warten nur darauf, daß das Boot kentert. Diese Amphibienlarven sind gefräßiger als Haie, nur eben in einer anderen Größenordnung.
Das Boot rast direkt auf die drei großen Kieselsteine zu, obwohl die Wasserkäfer sich nach besten Kräften abstrampeln.
Es rammt einen Stein, aber das weiche Blatt der Seerose dämpft zum Glück die Erschütterung. Die Blüte schwankt und droht umzukippen, wird aber von einem Strudel in die andere Richtung getrieben.
Den ersten Wasserfall haben die Ameisen überlebt, doch schon kommt ein zweiter in Sicht, und jetzt ist ihr Boot nicht nur von Kaulquappen umringt, sondern auch von Drehkäfern und Wasserskorpionen. Die meisten dieser Räuber erhoffen sich ein baldiges leckeres Mahl, aber einige sind auch nur neugierig. Wieder prallt die Seerose gegen Kieselsteine, und nachdem drei Kundschafterinnen fast über Bord gegangen wären, suchen alle hastig Zuflucht unter den gelben Staubfäden im Herzen der Pflanze und beißen ihre Mandibel zusammen.
Wie durch ein Wunder kentert das Boot auch diesmal nicht.
Glück muß die Ameise haben, denkt Nr. 103.
Ihr Glück währt freilich nicht lange, denn die Wasserkäfer desertieren angesichts weiterer schäumender Stromschnellen, und nun treibt die Seerose ziellos dahin. Nr. 103 wirft einen flüchtigen Blick zum Himmel empor, der immer noch strahlend blau ist. Dort oben scheint alles so ruhig und heiter, aber hier unten tost der Fluß, die Seerose dreht sich im Kreis, schneller und immer schneller, und die Zentrifugalkraft preßt die Ameisen an das innerste Blütenblatt. Ein ums andere Mal wird das Boot gegen Kieselsteine geschleudert. Nr. 103 und Nr. 5 purzeln übereinander. Die Prinzessin späht vorsichtig zwischen zwei Blütenblättern ins Freie, zieht ihren Kopf aber sofort wieder zurück, denn jetzt strudelt das Boot auf einen so gewaltigen Wasserfall zu, daß der Fluß dahinter gar nicht mehr zu sehen ist.
Nr. 103 denkt an den Film »Niagara« … Das ist das Ende!
Ihr Boot fliegt hoch in die Luft empor. Tief unter sich sieht sie das silbrige Band des Flusses.
90. HINTER DEN KULISSEN
»Also, Kinder, diesmal gilt das Motto: Mit Volldampf voraus!«
Diese Anweisung des Direktors war überflüssig, denn die Vorbereitungen liefen auf Hochtouren. Drei Stunden vor Konzertbeginn waren die Dekorationen noch nicht fertig, und es ging ziemlich hektisch zu. Léopold montierte das riesige Buch, David beschäftigte sich mit der Ameisenstatue, und Paul führte seinen Freunden stolz den »olfaktorischen Synthesizer« vor.
»Mit meinem Gerät kann man alle Gerüche künstlich erzeugen, von Rindsragout bis hin zu Jasminduft, von Schweiß- und Blutgeruch bis zu Kaffee und Pfefferminztee, Brathähnchen nicht zu vergessen …«
Francine machte Julie in der Garderobe klar, daß sie an diesem wichtigen Abend noch schöner als beim ersten Konzert aussehen müsse. »Es darf im Saal keinen einzigen Zuschauer geben, der sich nicht in dich
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