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Die Revolution der Ameisen

Die Revolution der Ameisen

Titel: Die Revolution der Ameisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Werber
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konnte. Immer mehr Leute schlossen sich ihm an, erfreut über die Abwechslung, denn normalerweise war in Fontainebleau abends nichts los. Manche wollten auch einfach wissen, was hier eigentlich vor sich ging: Keine Transparente, keine Plakate, nur Jungen und Mädchen, die zu den Klängen von Harfe und Flöte tanzten.
    Julie skandierte mit kraftvoller Stimme:
    » Wir sind die neuen Erfinder!
    Wir sind die neuen Visionäre!«
    Sie war die Königin dieser bunten Schar, ihr Idol, ihre Sirene und Schamanin, denn sie vermochte sie in Trance zu versetzen.
    Julie berauschte sich an dieser Popularität, an dieser Menge, die sie umringte und mitriß. Zum erstenmal in ihrem Leben fühlte sie sich nicht mehr allein.
    Eine Polizeikette tauchte plötzlich vor ihnen auf, aber die Mädchen entwickelten eine originelle Kampfstrategie. Sie liefen auf die Ordnungshüter zu und küßten sie.
    Unmöglich, mit Gummiknüppeln auf soviel Herzlichkeit zu reagieren! Die Polizeikette löste sich auf, und der Karnevalszug konnte ungehindert weitermarschieren.
    »Dies ist ein Fest!« jubelte Julie. »Meine Damen und Herren, vergessen Sie Kummer und Sorgen, kommen Sie auf die Straße und feiern Sie mit uns!«
    Neugierige beugten sich aus den Fenstern.
    »Welche Forderungen stellt ihr denn?« wollte eine alte Dame wissen.
    »Gar keine«, erwiderte eine Amazone vom Aikido-Club.
    »Dann ist das auch keine Revolution.«
    »Doch, das ist ja gerade das Originelle daran. Wir sind die ersten Revolutionäre, die keine Forderungen stellen.«
    » Wir sind die neuen Visionäre!
    Wir sind die neuen Erfinder!«
    Manche Leute, die aus ihren Häusern angelaufen kamen, brachten Instrumente mit, um sich an der Musik zu beteiligen; andere trommelten mit Löffeln auf Kochtöpfe. Wieder andere warfen Konfetti und Papierschlangen. Der Gesang der fünfhundertköpfigen Menge hallte durch die Straßen der sonst so ruhigen Stadt:
     
    Wir sind die neuen Visionäre! Wir sind die neuen Erfinder!
    Wir sind die kleinen Ameisen, die die verrottete alte Welt zum Einsturz bringen werden!
     

101. ENZYKLOPÄDIE
     
    Die Revolution der Kinder von Chengdu: Bis 1967 war Chengdu, Hauptstadt der chinesischen Provinz Sichan, ein ruhiger Ort. In 1000m Höhe im Himalaya gelegen, war die Stadt durch hohe Festungsmauern geschützt, und die meisten der drei Millionen Einwohner hatten keine Ahnung, was in Peking oder Shanghai vorging.
    Doch weil die großen Metropolen allmählich hoffnungslos überbevölkert waren, beschloß Mao Tse-tung, Abhilfe zu schaffen. Man riß Familien auseinander und schickte die Eltern aufs Land, wo sie sich auf den Feldern abrackern mußten, während die Kinder in Erziehungsanstalten der Rotgardisten zu guten Kommunisten erzogen werden sollten. Diese Anstalten waren regelrechte Arbeitslager mit miserablen Lebensbedingungen. Die Kinder wurden schlecht ernährt und zu Experimenten mit Zellulose-Nahrungsmitteln auf der Basis von Sägespänen mißbraucht, so daß sie wie die Fliegen starben.
    Doch dann fiel in Peking Maos enger Vertrauter Lin Piao, der für die Roten Garden zuständig war, in Ungnade, und die Parteikader hetzten die Kinder in den Anstalten plötzlich zur Revolte gegen ihre ›Gefängniswärter‹ auf. Eine typisch chinesische Spitzfindigkeit: Die Kinder hatten von nun an im Namen des Maoismus die Pflicht, aus den maoistischen Lagern zu flüchten und ihre Erzieher windelweich zu prügeln! Die meisten der befreiten Kinder versuchten, China zu verlassen. Sie besetzten Bahnhöfe und fuhren in westliche Richtung, weil Gerüchte kursierten, dort gebe es eine Organisation, die einen heimlich über die Grenze auf indisches Territorium bringen könne. Doch alle Züge in Richtung Westen endeten in Chengdu. Tausende dreizehn-bis fünfzehnjähriger Rotgardisten strandeten dort, doch anfangs ging alles gut. Die Kinder erzählten, wie sie in den Lagern gelitten hatten, und die Bevölkerung von Chengdu nahm sich ihrer mitleidig an. Man ernährte sie, gab ihnen Zelte zum Schlafen und warme Decken. Doch der Flüchtlingsstrom, der sich über den Bahnhof von Chengdu ergoß, nahm kein Ende: Bald hielten sich 200000 Kinder in der Stadt auf!
    Bei aller Hilfsbereitschaft waren die Einwohner von Chengdu dieser Horde nicht mehr gewachsen. Plünderungen und Diebstähle nahmen immer mehr Überhand, und Kaufleute, die dagegen protestierten, wurden verprügelt. Sie beschwerten sich beim Bürgermeister, dem jedoch keine Zeit zum Einschreiten blieb, denn die Kinder suchten ihn auf

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