Die Revolution der Ameisen
und zwangen ihn ›im Namen des Maoismus‹ zu einer öffentlichen Selbstkritik, worauf er aus der Stadt vertrieben wurde. Die Kinder organisierten die Wahl eines neuen Bürgermeisters und präsentierten ihren Kandidaten, einen pausbäckigen Dreizehnjährigen, der allerdings etwas älter aussah und offenbar ein gewisses Charisma besaß, denn er wurde von allen anderen Rotgardisten respektiert. In der ganzen Stadt hingen Plakate, auf denen die Wähler aufgefordert wurden, ihm ihre Stimme zu geben, und wegen seiner großzügigen Wahlversprechen wählte man ihn tatsächlich. Als erstes besetzte er alle wichtigen Stellen mit Kindern, wobei der älteste Stadtrat fünfzehn Jahre alt war!
Von nun an war Diebstahl kein Delikt mehr, und der neue Bürgermeister führte eine Sonderabgabe für Kaufleute ein.
Jeder Einwohner von Chengdu war verpflichtet, den Rotgardisten Unterkunft zu gewähren. Weil die Stadt so abgelegen war, erfuhr man andernorts zunächst nichts vom Wahlsieg der Kinder. Die besorgten Bürger schickten jedoch eine Delegation zum Provinzchef, der diese Affäre sehr ernst nahm und Armeeeinheiten aus Peking anforderte, um die Aufständischen zu unterwerfen. Die Hauptstadt schickte Tausende schwer bewaffneter Soldaten und Hunderte von Panzern. Befehl lautete: »Alle unter fünfzehn liquidieren.« Die Kinder versuchten sich hinter den Festungsmauern von Chengdu zu verschanzen, doch die Bevölkerung half ihnen nicht, vollauf damit beschäftigt, die eigenen Kinder irgendwo im Gebirge zu verstecken.
Zwei Tage tobte der Kampf der Armee gegen die Kinder, und die letzten Widerstandsnester mußten aus der Luft bombardiert werden. Alle Jungen kamen ums Leben.
Diese Begebenheit wurde nie an die große Glocke gehängt, denn wenig später kam es zu einem Treffen zwischen Mao Tse-tung und dem amerikanischen Präsidenten Richard Nixon; jetzt war es nicht mehr opportun, China zu kritisieren.
EDMOND WELLS,
Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens, Band III
102. ZWEITER SPRENGUNGSVERSUCH
Diesmal konnte nichts schiefgehen! Maximilien und seine Männer hatten die mysteriöse Pyramide umzingelt, und er hatte den Einsatz auf den Abend verlegt, um den oder die Bewohner im Schlaf zu überraschen.
Sie strahlten das Bauwerk mit ihren Taschenlampen an, obwohl es noch nicht ganz dunkel war. Alle trugen Schutzanzüge, und das Zündkabel war so stabil, daß Mandibel ihm nichts anhaben konnten. Der Kommissar wollte gerade den Befehl zur Sprengung geben, als er das Summen hörte. »Vorsicht, die Wespe!« rief er. »Paßt auf Hals und Hände auf!«
Ein Polizist zückte seinen Revolver und schoß, doch das Insekt war viel zu klein, und leichtsinnigerweise hatte er beim Zielen einen Streifen Haut entblößt. Sofort wurde er gestochen.
Das Insekt schwirrte irgendwo außer Reichweite herum, und alle spitzten ängstlich die Ohren, ob wieder ein Summen zu hören wäre, doch diesmal griff die Wespe völlig lautlos an. Sie umrundete das rechte Ohr eines Polizisten und bohrte ihren Stachel in seine Halsschlagader. Der Mann stürzte sofort ohnmächtig zu Boden, wie zuvor schon sein Kollege.
Maximilien zog seinen Schuh aus, und auch diesmal gelang ihm ein Volltreffer. Der heldenhafte Angreifer lag zerquetscht am Boden. Manchmal konnte ein Schuh eben wirkungsvoller als ein Revolver sein!
»Zwei zu null!«
Der Kommissar betrachtete sein Opfer. Das war gar keine Wespe, eher eine fliegende Ameise. Er zertrat sie mit dem Absatz zu Brei.
Die unversehrten Polizisten schüttelten ihre ohnmächtigen Kollegen, damit diese schneller zu sich kämen. Maximilien wollte die Sprengung möglichst rasch hinter sich bringen, bevor ein neuer gefährlicher Schutzengel der Pyramide auftauchen würde.
»Ist alles fertig?«
Der Sprengmeister überprüfte die Kontakte, da klingelte das Handy des Kommissars. Es war Präfekt Dupeyron.
»Demonstranten blockieren die Hauptstraße von Fontainebleau. Sie könnten große Schäden anrichten. Womit Sie auch immer beschäftigt sein mögen – lassen Sie alles stehen und liegen, kommen Sie sofort her und jagen Sie diese Verrückten auseinander!«
103. IM SCHILF
Der Mond wirft sein Licht auf die feuchte Erde, die nach dem Regen Wärme ausstrahlt. Die Dämmerung ist hereingebrochen, aber noch kämpft der Tag gegen die Nacht. Das Kriegsschiff steuert auf das Schilf zu.
Die Zwergameisen sind längst in Alarmbereitschaft, weil sie den Schein der Glut schon aus der Ferne gesehen haben. Alle Blütenblätter der
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