Die Revolution der Ameisen
Neugeborener, nur in umgekehrter Richtung. Am Ende des Lebensweges nimmt der Greis nur noch Flüssigkeit zu sich, trägt Windeln, hat kaum noch Zähne und Haare und brabbelt unverständliches Zeug. Doch während Babys in den ersten neun Monaten nach ihrer Geburt normalerweise liebevoll betreut werden, wird diese liebevolle Pflege alten Menschen in den neun Monaten vor ihrem Tod nur selten zuteil. Dabei brauchten sie dringend eine Amme oder Krankenschwester, die die Rolle der Mutter als
›psychologischer Kokon‹ übernehmen könnte, denn diese schützende Hülle ist für ihre letzte Metamorphose unverzichtbar.
EDMOND WELLS,
Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens, Band III
143. DIE BELAGERUNG VON BEL-O-KAN
Es stinkt nach verbrannten Kokons. Aus der Stadt steigt kein Rauch mehr auf; die belokanischen Soldatinnen haben den Brand gelöscht. Die Revolutionsarmee logiert ganz in der Nähe, und der Schatten der Metropole fällt wie ein riesiges schwarzes Dreieck auf die Belagerer.
Nr. 103 richtet sich auf vier Beinen ein wenig auf, und Nr. \1 stellt sich, schwer auf eine Krücke gestützt, sogar wieder auf die Hinterbeine, um mehr sehen zu können. Aus dieser Position kommt ihr die Stadt kleiner und nicht ganz uneinnehmbar vor.
Beide Ameisen wissen, daß das Feuer im Innern enorme Schäden angerichtet haben muß.
»Wir sollten sofort einen Sturmangriff machen«, meint Nr. 5.
Nr. 103 ist wenig begeistert. Schon wieder Krieg! Immer Krieg! Töten ist das komplizierteste und anstrengendste Verständigungsmittel.
Doch sie weiß, daß ihr gar keine andere Wahl als der Krieg bleibt, wenn sie den Lauf der Geschichte verändern will.
Nr. 7 schlägt eine Belagerung vor, damit man sich von der letzten Schlacht erholen und neu organisieren kann.
Nr. 103 hält nicht viel von langen Belagerungen. Man muß warten, alle Verbindungswege blockieren und überall Wachposten aufstellen. Damit kann eine Kriegerin nicht viel Ruhm ernten.
Eine zerzauste Ameise kommt auf sie zu und reißt sie aus ihren Überlegungen. Die Prinzessin macht einen Freudensprung, als sie in der staubigen Gestalt den Prinzen Nr.
24 erkennt.
Die beiden Insekten tauschen tausend Trophallaxien. Nr. 10\1 sagt, sie hätte ihn für tot gehalten, und der Prinz erzählt ihr sein Abenteuer. Als der Brand ausbrach und das Eichhörnchen flüchtete, hat er sich ins Fell gekrallt, und das Nagetier, das von Ast zu Ast sprang, hat ihn in weite Ferne verschleppt. Er ist lange umhergeirrt, bis ihm die Idee kam, wieder auf Eichhörnchen zu reiten. Das einzige Problem bei dieser Fortbewegungsart bestehe darin, so berichtet er, daß man sich mit den Tieren nicht unterhalten könne und deshalb nie wisse, welches Ziel sie hätten. Er wurde von den Nagern kreuz und quer getragen, deshalb trifft er auch so spät hier ein.
Die Prinzessin informiert ihn über die wichtigsten Ereignisse: die Schlacht von Bel-o-kan, die Brandstiftung, die geplante Belagerung.
»Das gibt genügend Stoff für einen Roman«, sagt Nr. 24 und aktiviert seine Gedächtnispheromonkartei, die um ein Kapitel wachsen wird.
»Wird man deinen Roman lesen können?« fragt Nr. 13.
»Ja, aber erst, wenn er fertig ist«, erwidert Nr. 24.
Wenn sich herausstelle, daß sein Pheromonroman die Ameisen interessiere, werde er vielleicht eine Fortsetzung mit dem Titel Die Nacht der Finger verfassen, und sollte auch dieser zweite Band ein Erfolg werden, würde er seine Trilogie mit Die Revolution der Finger beschließen.
»Warum eine Trilogie?« erkundigt sich die Prinzessin. Nr. 24 erklärt, im ersten Band erzähle er von der Kontaktaufnahme zwischen den beiden Zivilisationen, im zweiten würde er die Konfrontation zwischen Ameisen und Fingern schildern, und im dritten und letzten Band solle es zur Kooperation der beiden Arten kommen, nachdem sie sich nicht gegenseitig vernichten konnten.
»Kontakt, Konfrontation, Kooperation, das scheinen mir die drei logischen Stadien einer Begegnung zwischen unter-schiedlichen Wesen zu sein.«
Er weiß sogar schon ganz genau, wie er seine Geschichte aufbauen will. Drei parallele Handlungsstränge aus verschiedener Sicht: derjenige der Ameisen, der der Finger und der einer Persönlichkeit, die beide Welten kennt, beispielsweise Nr. 103.
Der Prinzessin kommt das alles ein bißchen verworren vor, aber sie hört aufmerksam zu, denn offenbar ist Nr. 24 schon seit der Zeit, als er auf der Insel Cornigera lebte, ganz versessen darauf, eine lange Geschichte zu
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