Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Revolution der Ameisen

Die Revolution der Ameisen

Titel: Die Revolution der Ameisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Werber
Vom Netzwerk:
ist nicht unsere Chefin, sondern nur unsere Galionsfigur. Wir gehören keiner wirtschaftlichen, politischen, ethnischen oder religiösen Gruppierung an. Wir sind frei.
    Verderben wir nicht alles durch die in der Politik üblichen Machtspiele. Wir würden dabei unsere Seele verlieren.«
    Lautes Stimmengewirr in der Turnhalle. Der kahlköpfige Mann hatte ein Thema angeschnitten, das offenbar sehr vielen auf den Nägeln brannte.
    »David hat recht«, fuhr Julie fort. »Unsere Stärke besteht darin, neue Ideen zu produzieren. Das ist eine viel wirkungsvollere Methode, die Welt zu verändern, als Präsident der Republik zu werden. Wer führt denn Veränderungen herbei? Nicht die Staatsmänner, sondern meistens kleine Leute mit neuen Ideen. Die ›Ärzte ohne Grenzen‹, die ohne jede staatliche Unterstützung aufgebrochen sind, um Menschen in aller Welt zu helfen … Die Freiwilligen, die sich im Winter um Arme und Obdachlose kümmern … Es gibt unzählige Privatinitiativen, während man staatliche Ideen mit der Lupe suchen kann. Die Jugend mißtraut politischen Slogans, aber sie behält manche Liedertexte sofort im Kopf. Das war ja auch der Ausgangspunkt unserer Revolution. Neue Ideen und Musik!
    Aber keine Ideologie, kein Machtstreben.«
    »Aber dann werden wir den WGG nie einschlagen können!«
    rief der Kahlköpfige.
    »Aber er stünde jedem Politiker zur Verfügung.«
    »Weitere Vorschläge?« fragte Ji-woong, der nicht wollte, daß es zu Streitereien kam.
    Eine Amazone stand auf. »Ich habe einen Großvater, der schon in Pension ist, und meine Schwester hat ein Baby, um das sie sich tagsüber nicht kümmern kann, weil sie berufstätig ist. Sie hat unseren Großvater deshalb gebeten, das Kind zu betreuen, und Opa und Enkel verstehen sich glänzend.
    Großvater kommt sich wieder nützlich vor und hat nicht mehr den Eindruck, der Gesellschaft zur Last zu fallen.«
    »Und?« Ji-woong liebte keine langen Vorreden.
    »Ich habe mir gesagt«, fuhr das junge Mädchen fort, »daß es unzählige Mütter gibt, die große Mühe haben, einen Kindergartenplatz oder eine Betreuerin zu finden. Gleichzeitig gibt es unzählige alte Menschen, die verzweifeln, weil sie nichts zu tun haben und den ganzen Tag allein vor dem Fernseher sitzen. Diese beiden Gruppen müßte man zusammenführen, dann wäre beiden geholfen – so wie es bei meinem Großvater und meinem Neffen der Fall war.«
    Alle Zuhörer wußten, daß es kaum noch Großfamilien gab, daß alte Menschen in Altenheime abgeschoben wurden, damit man ihnen nicht beim Sterben zusehen mußte, und daß andererseits Kleinkinder in Krippen gesteckt wurden, damit man sie nicht weinen hörte. Am Anfang und am Ende ihres Lebens wurden die Menschen von der Gemeinschaft ausgeschlossen.
    »Eine ausgezeichnete Idee«, meinte Zoé.
    Bei dieser ersten Versammlung wurden nicht weniger als 83 Projekte vorgeschlagen, und vierzehn davon realisierte man kurze Zeit später in Filialen der GmbH ›Revolution der Ameisen‹.
     

142. ENZYKLOPÄDIE
     
    Neun Monate: Bei höheren Säugetieren dauert die Trächtigkeit normalerweise achtzehn Monate, z.B. bei Pferden, deren Fohlen gleich nach der Geburt laufen können.
    Doch der menschliche Fötus hat einen Schädel, der viel zu schnell wächst. Er muß nach neun Monaten aus dem Körper der Mutter ausgestoßen werden, weil er andernfalls nicht mehr heraus käme. Deshalb sieht der Mensch unvollendet und unselbständig das Licht der Welt. Seine ersten neun Monate außerhalb des Mutterleibs sind exakte Kopien der neun Monate im Mutterleib. Einziger Unterschied: Das Baby muß eine flüssige Umgebung mit einer gasförmigen vertauschen. In seinen ersten neun Monaten an der Luft braucht es einen neuen schützenden Bauch – den psychischen Bauch. Das Kind ist nach der Geburt völlig verwirrt. Es gleicht einem Verletzten mit lebensgefährlichen Verbrennungen, den man unter ein Zelt legen muß. Der enge Kontakt zur Mutter, die Muttermilch, die Küsse des Vaters – das ist das Schutzzelt, das ein Kleinkind benötigt.
    Genauso wie ein Kind in den ersten neun Monaten nach der Geburt diesen schützenden Kokon benötigt, so bedarf auch der Greis in den neun letzten Monaten seines Lebens eines psychologischen Kokons. Es handelt sich für ihn um eine wichtige Periode, denn intuitiv weiß er, daß seine Zeit abläuft.
    Während dieser letzten neun Monate legt der Sterbende seine alte Haut und sein angesammeltes Wissen ab. Er durchläuft denselben Prozeß wie ein

Weitere Kostenlose Bücher