Die Revolution der Ameisen
umgekehrtes Spiegelbild zurück.
EDMOND WELLS,
Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens, Band III
166. FLUCHT DURCH DIE KANALISATION
Sie tasteten sich im Dunkeln voran. Es stank, und der Boden war glitschig.
Julies Zeigefinger berührte etwas Weiches, Warmes.
Was mochte das sein? Ein Exkrement? Schimmel? Ein Tier?
Eine Pflanze? Ihr ungeübter Tastsinn konnte ihr keine zuverlässigen Informationen liefern.
Um sich Mut zu machen, sang sie leise vor sich hin: »Eine grüne Maus …«, und dabei stellte sie fest, daß sie dank dem Nachhall ihrer Stimme die Raummaße in etwa abschätzen konnte. Ihr geschultes Gehör machte die Mängel des Tastsinns wett.
Mit geschlossenen Augen klappte diese Art der Wahrnehmung sogar noch besser. Instinktiv verhielt Julie sich wie eine Fledermaus, die in ihrer Höhle das Raumvolumen durch Senden und Empfangen von Tönen ›ausmißt‹. Je schriller die Töne, desto besser kann sie Formen und sogar Hindernisse erkennen.
167. ENZYKLOPÄDIE
Schule des Schlafs: Wir verschlafen 25 Jahre unseres Lebens und wissen trotzdem nicht, wie wir die Qualität und Quantität des Schlafs beeinflussen können.
Der Tiefschlaf, der uns die Erholung beschert, dauert nur eine Stunde pro Nacht und ist in kleine Abschnitte von 15 Minuten unterteilt, die sich – wie der Refrain eines Liedes –
alle anderthalb Stunden wiederholen.
Es gibt Menschen, die zehn Stunden hintereinander schlafen, ohne diesen Tiefschlaf zu finden, und deshalb wachen sie völlig erschöpft auf.
Dabei könnten wir, wenn wir sofort in diesen Tiefschlaf verfallen würden, mit einer einzigen Stunde Schlaf auskommen und uns trotzdem erholen.
Wie soll man das anstellen?
Man muß seine Schlafzyklen registrieren. Dazu genügt es, sich auf die Minute genau zu notieren, wann jener ›tote Punkt‹
beginnt, der bei den meisten Menschen gegen 18 Uhr 3\1 einsetzt und danach alle anderthalb Stunden wiederkehrt. Hat man diesen ›toten Punkt‹ beispielsweise um 18 Uhr 36, werden die nächsten wahrscheinlich um 20 Uhr 06, 21 Uhr 36, 23 Uhr 06 usw. erfolgen. Das sind die Augenblicke, in denen der Zug des Tiefschlafs vorbeifährt.
Wenn man in einem dieser Augenblicke einschläft und sich zwingt, drei Stunden später wieder aufzuwachen (notfalls mit Hilfe eines Weckers), kann man seinem Gehirn allmählich beibringen, die Schlafphase zu komprimieren und nur den wichtigen Teil beizubehalten. Auf diese Weise kann man sich in kürzester Zeit erholen und steht ausgeruht auf. Eines Tages wird man zweifellos Kindern in der Schule beibringen, wie sie ihren Schlaf kontrollieren können.
EDMOND WELLS,
Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens, Band III
168. TOTENKULT
Das Exekutionskommando kommt in einen großen Saal mit seltsamen Skulpturen: ausgeweidete Ameisen, deren Panzer in Kampfstellungen verharren. Die Soldatinnen weichen etwas zurück. Diese zur Schau gestellten Leichen sind einfach geschmacklos! Vom Hörensagen wußten sie schon, daß die Gottgläubigen Tote konservieren, um sie besser in Erinnerung behalten zu können.
Das ist pervers, denn auf diese Weise können sie nicht wieder zu Erde werden, wie es sich gehört. Außerdem stinkt der ganze Saal bestialisch nach Oleinsäure, und dieser Verwesungsgeruch ist für jede halbwegs sensible Ameise unerträglich.
Obwohl die regungslosen Panzer keinen Funken Leben mehr in sich haben, scheinen sie die Kriegerinnen zu verhöhnen.
Vielleicht ist das die große Stärke der Gottgläubigen, denkt Nr. 13. Sie üben auch nach ihrem Tod noch Einfluß aus.
Prinzessin Nr. 103 hat erzählt, daß die Finger die Geburtsstunde ihrer Zivilisation mit dem Zeitpunkt gleichsetzen, als sie aufhörten, ihre Leichen einfach auf den Müllhaufen zu werfen. Das ist einleuchtend. Wenn man Toten eine Bedeutung beimißt, so heißt das, daß man an ein Leben nach dem Tod glaubt und vom Paradies träumt. Leichen nicht wie Abfall zu behandeln ist also keineswegs so harmlos, wie man zunächst glauben könnte.
»Friedhöfe sind eine Eigentümlichkeit der Finger, und in einem Ameisenbau haben sie nichts verloren«, entscheidet Nr.
13, während sie das makabre Museum betrachtet.
Die Soldatinnen zertrümmern die Skulpturen. Sie reißen mit ihren Greifern die trockenen Fühler aus den hohlen Schädeln und zerlegen die Panzer mit den Mandibeln, bis nur noch unidentifizierbare Bruchstücke den Boden bedecken, aber nach getaner Arbeit haben sie das ungute Gefühl, gegen einen wehrlosen Feind
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