Die Revolution der Ameisen
Nr.
23 begreift viel zu spät, was vor sich geht. Alarmpheromone steigen auf, und es entsteht ein riesiges Durcheinander.
Überall brechen Gläubige zusammen, strecken ihre Beine aus, um ein sechsarmiges Kreuz zu bilden, und sterben mit dem Bekenntnis auf den Fühlern:
Die Finger sind unsere Götter.
Nr. 23 ruft ihren Anhängerinnen zu: »Ihr müßt mich retten!«
Zur Religion gehört nicht nur der Totenkult, sondern auch die Vorrangstellung der geistlichen Würdenträger. Gläubige Soldatinnen scharen sich um Nr. 23 und schützen sie mit ihren eigenen Körpern, während drei kräftige Arbeiterinnen einen Fluchtweg graben.
Die Finger sind unsere Götter.
Der Saalboden ist mit kreuzförmig daliegenden Leichen übersät. Um zu verhindern, daß mit ihnen erneut der abscheuliche Totenkult betrieben wird, schneidet das Exekutionskommando ihnen die Köpfe ab. Diese Enthauptungen kosten aber viel Zeit, und Nr. 23 nutzt die Gelegenheit, mit einigen Überlebenden des Massakers durch den soeben gegrabenen Gang zu flüchten. Das Kommando nimmt die Verfolgung auf, und wieder stellen sich die Gläubigen schützend vor ihre Prophetin. Erstmals in der Geschichte sind Ameisen bereit, für eine herausragende Artgenossin zu sterben. Nicht einmal die Königinnen konnten jemals mit solcher Hingabe rechnen.
Die Finger sind unsere Götter.
Jede Gläubige stößt in der Todessekunde diesen Pheromonruf aus.
Außer Nr. 23 sind nur noch zehn Gläubige am Leben, und das Kommando bleibt ihnen dicht auf den Fersen. Plötzlich versperrt ihnen auch noch ein Regenwurm den Weg. Nr. 2\1 ermutigt ihre erschöpften und verletzten Anhängerinnen:
»Folgt mir!«
Zur größten Verwunderung der anderen stürzt sie auf den Wurm zu und schlitzt ihm mit einer Mandibel die Seite auf. Sie bedeutet ihren Gefährtinnen, durch diese Öffnung ins Innere des Wurms zu klettern, der zum Glück so fett ist, daß die ganze Gruppe in ihm Platz hat, ohne ihn zu töten.
Der Wurm windet sich verständlicherweise, als die Insekten in seinen Körper eindringen, doch schließlich setzt er seinen Weg fort. Nr. 23 hat soeben die Untergrundbahn als Transportmittel erfunden.
172. BEIM PHILOSOPHIELEHRER
Der Philosophielehrer war nicht sonderlich überrascht, als David und Julie bei ihm klingelten; er erklärte sich sofort bereit, sie zu beherbergen.
Julie stürzte unter die Dusche und wusch den gräßlichen Dreck und Gestank der Kanalisation von sich ab. Ihre Kleidung warf sie in einen Müllbeutel und streifte einen Jogginganzug des Lehrers über.
»Danke, Monsieur, Sie haben uns gerettet«, sagte David, nachdem auch er sich gewaschen und einen Jogginganzug angezogen hatte.
Sie saßen im Wohnzimmer, und der Lehrer bot ihnen Wein und Erdnüsse an, bevor er in die Küche ging, um ihnen etwas zu essen zu machen.
David und Julie verschlangen die kleinen Sandwiches mit Lachs, Eiern und Kapern.
Der Lehrer schaltete den Fernseher ein. Am Ende der Regionalnachrichten kam ein Bericht über die Schülerrevolte.
Marcel Vaugirard interviewte einen Polizisten, der erklärte, diese sogenannte ›Revolution der Ameisen‹ sei in Wirklichkeit das Werk einer Anarchistengruppe, die unter anderem dafür verantwortlich wäre, daß ein Verletzter im Koma liege. Sein Foto wurde gezeigt.
»Narcisse im Koma?« rief David entsetzt.
Auch Julie konnte es nicht fassen. Sie hatte zwar gesehen, daß der junge Modeschöpfer von den Schwarzen Ratten zusammengeschlagen und von einem Krankenwagen abtransportiert worden war, aber sie hatte nicht gedacht, daß er so schwer verletzt sein könnte.
»Wir müssen ihn besuchen«, sagte sie impulsiv.
»Das ist unmöglich«, erwiderte David. »Man würde uns im Krankenhaus sofort festnehmen.«
Er hatte natürlich recht. Nach ihnen allen wurde gefahndet, und auf einem Foto von ihrer Gruppe konnte man sie deutlich erkennen. Immerhin waren David und Julie froh, auf diese Weise zu erfahren, daß auch den anderen die Flucht gelungen war.
»Das ist ja wirklich eine tolle Geschichte, Kinder«, kommentierte der Lehrer. »Ihr werdet hier bleiben müssen, bis die Aufregung sich etwas gelegt hat.«
Er stellte ihnen Joghurt als Nachtisch hin und ging wieder in die Küche, um Kaffee zu machen.
Julie kochte vor Wut, als im Fernsehen die von der
›Revolution der Ameisen‹ angerichteten Verwüstungen gezeigt wurden: verschmutzte Klassenzimmer, zerfetzte Laken und Decken, verbrannte Möbel …
»Wir haben bewiesen, daß eine gewaltlose Revolution möglich
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