Die Revolution der Ameisen
ist, aber sogar das wollen sie uns nehmen!«
»Durchaus verständlich«, sagte der Lehrer nüchtern,
»nachdem es eurem Freund Narcisse offenbar ziemlich schlecht geht.«
»Aber es waren doch die Schwarzen Ratten, die ihn zusammengeschlagen haben! Das sind ganz üble Provokateure«, empörte Julie sich.
»Unsere Revolution ist wirklich sechs Tage lang ohne jede Gewalt ausgekommen«, betonte auch David.
Der Lehrer schnitt eine Grimasse. »Ihr begreift eines nicht, meine Freunde. Ohne Gewalt ist eine Bewegung nicht spektakulär genug, um die Medien zu interessieren. Kein Mensch hat von eurer Revolution Notiz genommen – eben weil sie gewaltlos war. Heutzutage muß man unbedingt in die Zwanzig-Uhr-Nachrichten kommen, wenn man auf sich aufmerksam machen will, aber die Nachrichten berichten nur über etwas, wenn es Tote oder Verletzte gegeben hat. Ob nun Kriege, Erdbeben oder Autounfälle – Hauptsache, es fließt viel Blut! Ihr hättet mindestens einen Polizisten umbringen sollen.
Weil ihr unbedingt gewaltlos vorgehen wolltet, habt ihr keine Revolution gemacht, sondern nur auf dem Schulhof gefeiert und randaliert.«
»Das ist doch nicht Ihr Ernst?« rief Julie entrüstet.
»Ich bin nur realistisch, weiter nichts. Es war ein Glück für euch, daß diese jungen Faschisten angegriffen haben, denn andernfalls hättet ihr euch der Lächerlichkeit preisgegeben.
Jugendliche aus guten Familien, die ein Gymnasium besetzen, um Schmetterlingskleider zu fabrizieren – das ruft keine Bewunderung, sondern nur spöttisches Lachen hervor. Ihr solltet diesen Burschen dankbar sein, daß sie euren Freund ins Koma befördert haben. Wenn er stirbt, habt ihr wenigstens einen Märtyrer.«
Julie wußte selbst, daß ihre Revolution nicht ernstgenommen worden war, weil sie Gewaltlosigkeit gepredigt hatte; dabei hatte sie sich doch genau an die Empfehlungen der Enzyklopädie gehalten. Und daß eine gewaltlose Revolution möglich war, hatte Gandhi längst bewiesen!
»Ihr habt die ganze Sache verpfuscht«, fuhr der Lehrer fort.
»Immerhin haben wir solide Firmen gegründet«, widersprach David. »In wirtschaftlicher Hinsicht war unsere Revolution ein Erfolg.«
»Na und? Das interessiert doch keinen Menschen. Wenn bei irgendeinem Ereignis keine Fernsehkameras dabei sind, ist es so, als hätte es nie stattgefunden.«
»Aber wir haben unser Schicksal selbst in die Hand genommen«, beharrte David. »Wir wollten eine Gesellschaft ohne Gott und Meister begründen, genau wie Sie es uns geraten haben.«
Der Lehrer hob die Schultern. »Genau da drückt der Schuh!
Ihr habt es versucht, aber nicht geschafft. Ihr habt eine Farce daraus gemacht.«
»Unsere Revolution gefällt Ihnen also nicht?« fragte Julie, die sich über seinen scharfen Ton wunderte.
»Nein, sie gefällt mir überhaupt nicht. Wie bei allen anderen Dingen, so gibt es auch bei Revolutionen feste Regeln, an die man sich halten muß. Wenn ich euch Noten geben müßte, so bekämt ihr eine Fünf. Hingegen würde ich den Schwarzen Ratten eine Eins zubilligen.«
»Ich verstehe Sie nicht«, murmelte Julie.
Der Lehrer holte eine Zigarre aus seinem Humidor, zündete sie an und rauchte genüßlich. Erst als Julie bemerkte, daß er ständig auf die Wanduhr schaute, ging ihr ein Licht auf. Er provozierte sie nur, um ihre Aufmerksamkeit abzulenken.
Sie sprang auf, aber es war schon zu spät. Auf der Straße heulte eine Polizeisirene. »Sie haben uns verraten!«
»Das war notwendig«, sagte der Lehrer, mied aber ihren anklagenden Blick.
»Wir haben Ihnen vertraut, und Sie haben uns verraten.«
»Ich helfe euch nur, zur nächsten Etappe überzugehen. Ich vervollkommne eure revolutionäre Erziehung. Alle Revolutionäre waren irgendwann im Gefängnis. Und als Märtyrer werdet ihr wahrscheinlich überzeugender sein als in der Rolle gewaltloser Utopisten. Mit etwas Glück könnten diesmal vielleicht sogar Journalisten zur Stelle sein.«
Julie konnte sein Verhalten immer noch nicht fassen. »Aber Sie sagten doch selbst, nur Dummköpfe seien mit zwanzig keine Anarchisten!«
»Gewiß, aber ich sagte auch, noch törichter sei es, mit über dreißig immer noch Anarchist zu sein.«
»Sie sagten, Sie seien neunundzwanzig!« warf David ihm vor.
»Tut mir leid, aber gestern bin ich dreißig geworden.«
David packte Julie am Arm. »Komm! Merkst du nicht, daß er uns nur aufhalten möchte, bis die Polizei hier ist? Vielleicht haben wir noch eine kleine Chance zu entkommen. Danke für die
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