Die Revolution der Ameisen
sieht sie plötzlich zwölf Silhouetten vor sich. Es sind rote Waldameisen wie sie selbst. Sie erkennt auf Anhieb den Geruch der Geburtsstadt dieser Ameisen: Bel-o-kan. Es sind also Familienangehörige. Jüngere Schwestern.
Ihre Mandibel nach vorne gerichtet, eilt sie auf diese zivilisierten Wesen zu. Die zwölf bleiben stehen und richten überrascht ihre Fühler auf. Die alte Ameise erkennt, daß es sich um junge geschlechtslose Soldatinnen aus der Unterkaste der Kundschafterinnen und Jägerinnen handelt. Sie bittet eine von ihnen um eine Trophallaxie, und die Angesprochene bringt ihre Zustimmung zum Ausdruck, indem sie ihre Fühler nach hinten biegt.
Sogleich vollziehen die beiden Insekten das unwandelbare Ritual des Nahrungsaustausches. Zunächst übermitteln sie sich einige Informationen, indem sie sich gegenseitig mit den Fühlerspitzen auf den Schädel trommeln. Die eine erfährt auf diese Weise, was ihre Gesprächspartnerin benötigt, die andere, was ihr angeboten wird. Dann rücken sie mit geöffneten Mandibeln dicht aneinander heran, bis Mund-zu-Mund-Kontakt besteht. Die Spenderin holt aus ihrem Kropf flüssige Nahrung hervor und übergibt sie der ausgehungerten Artgenossin. Die alte rote Ameise schluckt gierig. Ein Teil der Speise fließt in den Magen, weil sie wieder zu Kräften kommen muß, aber ein anderer Teil wird in den Kropf, den
›sozialen Magen‹ befördert, damit sie ihrerseits in der Lage ist, notfalls eine Schwester zu stärken. Sie zittert vor Wohlbehagen, während die zwölf jungen Kriegerinnen ihre Fühler bewegen – eine höfliche Aufforderung, daß sie sich doch vorstellen möge.
Jedes der elf Antennensegmente gibt ein spezielles Pheromon ab, wie elf Münder, die imstande sind, sich gleichzeitig in elf verschiedenen olfaktorischen Tonarten auszudrücken. Diese elf Münder können aber nicht nur senden, sondern auch empfangen wie elf Ohren.
Die junge Nahrungsspenderin berührt das erste Segment –
vom Kopf aus gerechnet – der alten roten Ameise und weiß sofort ihr Alter: drei Jahre. Das zweite Segment verrät ihr Kaste und Unterkaste: geschlechtslose Soldatin, Kundschafterin und Jägerin. Das dritte informiert über Art und Geburtsort: rote Waldameise aus Bel-o-kan. Das vierte gibt die Legenummer und somit den Namen preis: Sie war das 103 683ste Ei, das die Königin im Frühling vor drei Jahren gelegt hatte, und deshalb heißt sie ›Nr. 103 683‹.
Die junge Ameise beendet ihre olfaktorische Befragung. Die übrigen Segmente sind nicht zum ›Senden‹ bestimmt. Das fünfte dient dazu , Pistenmoleküle wahrzunehmen; das sechste ermöglicht einfache Dialoge, das siebente komplizierte Dialoge, und das achte ist Gesprächen mit der Königin – der Mutter – vorbehalten. Die drei letzten Segmente können als kleine Keulen eingesetzt werden.
Nr. 103 683 sondiert ihrerseits die zwölf Kundschafterinnen.
Es sind junge Soldatinnen, 198 Tage alt. Doch obwohl es sich sozusagen um Zwölflinge handelt, unterscheiden sie sich beträchtlich voneinander.
Nr. 5 ist einige Sekunden vor den anderen zur Welt gekommen und somit die Älteste. Länglicher Kopf, schmaler Thorax, spitze Mandibel, stabförmiger Hinterleib – das ergibt einen schlanken Gesamteindruck, und ihre Gesten sind präzise, wohlüberlegt.
Nr. 6, ihre unmittelbare Schwester, ist hingegen rundlich: runder Kopf, gedrungener Thorax, dicker Hinterleib. Ihre Fühler sind an den Enden spiralförmig gebogen, und sie hat einen Tick – dauernd streicht sie mit dem rechten Vorderbein über ihr Ohr, so als juckte es.
Nr. 7 – kurze Mandibel, dicke Beine und distinguiertes Auftreten – ist perfekt gepflegt. In ihrem glänzenden Panzer spiegelt sich der Himmel. Ihre Bewegungen sind anmutig, und sie zeichnet mit dem Ende ihres Hinterleibs ständig ein ›Z‹ in den Staub, was aber nichts zu bedeuten hat.
Nr. 8 ist behaart, sogar an der Stirn und an den Mandibeln.
Sie ist schwerfällig und kraftstrotzend und bewegt sich ungeschickt. An einem Zweiglein kauend, streicht sie damit zum Spaß gelegentlich über ihre Antennen, bevor sie es wieder mit den Mandibeln bearbeitet.
Nr. 9 hat einen runden Kopf, einen dreieckigen Thorax, einen quadratischen Hinterleib und zylindrische Beine. Eine Kinderkrankheit hat auf ihrem kupferfarbenen Panzer Löcher hinterlassen, aber sie hat besonders schöne Gelenke, weiß das auch und bewegt sie deshalb fortwährend. Das erzeugt ein nicht unangenehmes Geräusch, wie von gut geölten Scharnieren.
Nr.
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