Die Revolution der Ameisen
gestalten sollte.
Dieses System funktionierte großartig, denn die Astrologen der Maya stimmten ihre Prophezeiungen aufeinander ab. Wenn beispielsweise im Horoskoplied eines jungen Mannes stand, er werde an einem bestimmten Tag ein bestimmtes junges Mädchen kennenlernen, so kam diese Begegnung auch zustande, weil das Mädchen in seinem persönlichen Horoskop die entsprechenden Verse gefunden hatte. Das galt auch für Geschäfte: Versprach ein Vers jemandem, er werde an einem bestimmten Tag ein Haus kaufen, so stand andererseits im Horoskop des Verkäufers, er müsse sein Haus an ebendiesem Tag anbieten. Auch über das Datum einer Schlägerei wußten die Teilnehmer schon eine Ewigkeit zuvor Bescheid.
Diese Methode stärkte das bestehende System. Kriege wurden lange im voraus angekündigt und beschrieben. Die Sieger standen von vornherein fest, und die Astrologen wußten sogar genau, wieviel Tote und Verletzte auf den Schlachtfeldern liegen würden. Stimmte die Zahl der Toten nicht genau mit den Prophezeiungen überein, wurden einfach Gefangene niedergemetzelt.
Wie sehr diese gesungenen Horoskope das Leben erleichterten! Nichts blieb mehr dem Zufall überlassen.
Niemand hatte Angst vor dem nächsten Tag. Die Astrologen erhellten jedes Menschenleben vom Anfang bis zum Ende.
Jeder kannte den Verlauf seines eigenen Lebens und wußte sogar über den Verlauf des Lebens anderer genau Bescheid.
Die Prophezeiungen der Maya gipfelten darin, daß sie den Augenblick des Weltendes festlegten. Es sollte an einem ganz bestimmten Tag des 10. Jahrhunderts (nach christlicher Zeitrechnung) erfolgen. Die Astrologen waren sich sogar über die Stunde einig geworden. Um diese Katastrophe nicht erleben zu müssen, legten die Menschen am Vorabend Feuer an ihre Städte, töteten ihre Familien und begingen Selbstmord.
Die wenigen Überlebenden verließen die brennenden Städte und irrten in den Ebenen umher.
Dabei waren die Maya alles andere als borniert oder naiv. Sie hatten eine hochentwickelte Kultur, sie kannten die Null und das Rad (obwohl sie sich über die Bedeutung dieser Entdeckung nicht im klaren waren), sie bauten Straßen, und ihr Kalender, der in dreizehn Monate eingeteilt war, übertraf den unsrigen an Exaktheit.
Als die Spanier im 16. Jahrhundert in Yukatan ankamen, wurde ihnen nicht einmal die Befriedigung zuteil, die Maya-Zivilisation zerstören zu können, denn diese hatte sich schon lange zuvor selbst vernichtet.
Dennoch gibt es bis heute Indios, die behaupten, ferne Nachkommen der Maya zu sein. Man nennt sie Lacandonen, und ihre Kinder trällern seltsamerweise alte Lieder, in denen alle Ereignisse eines Menschenlebens aufgezählt werden. Aber niemand weiß mehr, welche Bedeutung diese Lieder einst hatten.
EDMOND WELLS,
Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens, Band III
17. BEGEGNUNG
Wohin führt dieser Weg? Sie ist erschöpft. Schon seit mehreren Tagen nimmt sie auf ihrer langen Wanderung nun schon die Gerüche einer Ameisenpiste wahr.
Einmal ist ihr etwas Merkwürdiges passiert, das sie sich nicht genau erklären kann: sie war auf einen glatten, dunklen Gegenstand geklettert, und plötzlich wurde sie hochgehoben, mußte über eine rosa Wüste laufen, auf der vereinzelte schwarze Gräser wuchsen, wurde auf geflochtene Pflanzenfasern geworfen und schließlich hoch in die Luft geschleudert.
Das mußte einer von ›ihnen‹ gewesen sein!
Sie kommen jetzt immer zahlreicher in den Wald. Doch was soll’s? Sie ist noch am Leben, und das ist das einzige, was zählt.
Die bisher sehr schwachen Pheromondüfte werden stärker.
Kein Zweifel – sie befindet sich auf einer Ameisenstraße, hier zwischen Heidekraut und Feldthymian. Sie saugt den Geruch in sich ein und kann diese Mischung von Kohlenwasserstoff sofort identifizieren: C10H22 aus den Drüsen unter dem Hinterleib der Kundschafterinnen von Belokan.
Mit der Sonne im Rücken folgt die alte rote Ameise dieser Duftspur. Ringsum bildet das hohe Farnkraut grüne Gewölbe.
Die Tollkirschen ragen wie Chlorophyllsäulen empor. Eichen spenden Schatten. Sie spürt, daß sie von Tausenden von Augen, Ohren und Fühlern beobachtet und belauscht wird, die überall im Gras und Laub versteckt sind. Nachdem aber kein Lebewesen vor ihr auftaucht, kann sie getrost davon ausgehen, daß sie die anderen erschreckt und einschüchtert.
Sie senkt den Kopf, um noch kriegerischer zu wirken, und manche Augen verschwinden hastig.
Als sie um einen Strauch blauer Lupinen biegt,
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