Die Revolution der Ameisen
10 ist die kleinste, so klein, daß sie kaum noch wie eine richtige Ameise aussieht. Dafür hat sie sehr lange Fühler, und deshalb dient sie der Gruppe als olfaktorisches Radargerät. Die Bewegungen ihrer Sensoren verraten große Neugier.
Auch Nr. 11,12,13,14,15 und 16 werden von der alten Ameise in allen Einzelheiten begutachtet, bevor sie sich wieder Nr. 5 zuwendet, nicht nur, weil sie die Älteste ist, sondern auch, weil ihre Antennen von olfaktorischen Mitteilungen ganz klebrig sind, was ein Hinweis auf große Soziabilität ist; es ist wesentlich einfacher, sich mit Schwatzbasen als mit verschlossenen Artgenossen zu unterhalten.
Die beiden Ameisen nehmen Fühlerkontakt auf und führen einen Dialog.
Nr. 103 683 erfährt, daß diese zwölf Soldatinnen einer neuen militärischen Unterkaste angehören, der Elitetruppe von Belokan. Sie werden als Vorhut eingesetzt, um feindliche Armeen auszuspionieren. Gelegentlich kämpfen sie gegen andere Ameisenstädte und nehmen auch an der Jagd auf große Räuber
– etwa Eidechsen – teil.
Nr. 10\1 683 fragt, was diese Ameisen so fern vom Heimatnest zu tun haben. Nr. 5 antwortet, daß sie einen Forschungsauftrag ausführen sollen. Seit mehreren Tagen marschieren sie nun schon in östliche Richtung, auf der Suche nach dem östlichen Ende der Welt.
Für die Bewohner der Ameisenstadt Bel-o-kan hat die Welt schon immer existiert und wird immer existieren, ohne Anfang und ohne Ende. Sie stellen sich den Planeten würfelförmig vor, umgeben von Luft und umschlossen von einem Wolkenteppich. Dahinter, so glauben sie, gibt es Wasser, das manchmal als Regen durch die Wolken dringt.
Das ist ihre Kosmogonie.
Die Bürger von Bel-o-kan glauben, daß sie in unmittelbarer Nähe des östlichen Randes der Welt leben; seit Jahrtausenden senden sie Expeditionen aus, um die exakte Randstelle zu entdecken.
Nr. 103 683 signalisiert, daß auch sie eine belokanische Kundschafterin ist und sich auf dem Rückweg aus dem Osten befindet, und sie prahlt, daß es ihr bereits gelungen sei, das Ende der Welt zu erreichen.
Weil die zwölf jungen Ameisen ihr nicht glauben, schlägt sie vor, im Schutz einer Wurzel einen Kreis zu bilden und alle Fühler zusammenzufügen.
Auf diese Weise wird sie ihnen rasch ihre Lebensgeschichte erzählen können, und dann werden diese zwölf über ihre unglaubliche Odyssee ans östliche Ende der Welt Bescheid wissen. Gleichzeitig werden sie aber auch von der düsteren Gefahr Kenntnis erlangen, die ihrer Heimatstadt droht.
18. DAS WÜRMER-SYNDROM
Ein schwarzer Wimpel flatterte an der Limousine, die vor dem Haus stand, wo letzte Vorbereitungen getroffen wurden.
Jeder trat an den aufgebahrten Leichnam heran und küßte ihm ein letztes Mal die Hand.
Dann wurden Gaston Pinsons sterbliche Überreste in einen großen Plastiksack mit Reißverschluß geschoben, in dem sich Naphthalinkugeln befanden.
»Wozu denn das Naphthalin?« fragte Julie einen Angestellten des Bestattungsunternehmens.
Der schwarz gekleidete Mann setzte eine professionelle Miene auf. »Um die Würmer fernzuhalten«, erklärte er gestelzt. »Totes Menschenfleisch zieht Maden an.
Glücklicherweise sind Leichname heutzutage dank dem Naphthalin geschützt.«
»Die Würmer können uns also nicht mehr fressen?« »Unmöglich«, beteuerte der Spezialist. »Außerdem sind die Särge mit Zinkplatten verkleidet, so daß kein Lebewesen eindringen kann. Nicht einmal die Termiten schaffen das. Ihr Vater wird in seinem Grab sehr lange unversehrt bleiben.«
Männer mit dunklen Mützen schoben den Sarg in die Limousine.
Der Leichenzug geriet in einen Verkehrsstau nach dem anderen und wurde von stinkenden Abgasen umhüllt, bevor er Stunden später den Friedhof erreichte. Voran fuhr die Limousine mit dem Leichnam, gefolgt von dem Auto mit den nächsten Familienangehörigen, einem zweiten mit entfernten Verwandten, den Wagen der Freunde des Verstorbenen und schließlich den Fahrzeugen seiner Arbeitskollegen.
Alle waren schwarz gekleidet und stellten Trauermienen zur Schau. Vier Totengräber trugen den Sarg auf ihren Schultern zum Grab. Die Zeremonie ging sehr langsam vonstatten. Die Menschen stampften mit den Füßen, um sich aufzuwärmen, und flüsterten einander die üblichen Floskeln zu: »Er war ein großartiger Mensch«; »er ist viel zu früh von uns gegangen«;
»welch ein Verlust für die Rechtsabteilung«; »er war ein Heiliger, ein unglaublich gütiger und großmütiger Mann«; »mit ihm haben
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