Die Revolution der Ameisen
haben die Kontaktpersonen umgebracht!«
Ihre Spione baumelten an Galgen, demonstrativ zur Schau gestellt.
Politiker, Publizisten und Journalisten hatten die Mörder nicht zurückgehalten, so als wollten die Bewohner von Infra-World den Bewohnern der realen Welt eine Botschaft zukommen lassen.
»Sie haben also begriffen, daß sie nur eine Illusion der Informatik sind. Vielleicht konnten sie deduktiv folgern, daß ich existiere«, murmelte Francine verstört.
Rasch bewegte sie sich durch ihre Infra-World, um besser verstehen zu können, was dort vor sich ging, und überall stieß sie auf Aufschriften, die von den Göttern verlangten, den virtuellen Bewohnern ihre Freiheit zu schenken. Götter, laßt uns in Ruhe!
Sie hatten ihre Forderung auf die Dächer ihrer Häuser geschrieben, in ihre Monumente eingraviert, mit der Mähmaschine in ihre Rasen geschnitten.
Folglich war ihnen tatsächlich bewußt geworden, wer sie waren und wo sie lebten. Francine hätte ihnen gern das Spiel Evolution gezeigt, damit sie begreifen könnten, wie eine Welt unter totaler Kontrolle eines Spielers aussah.
Sie dagegen hatte ihnen als Göttin den freien Willen gelassen und hatte nicht in ihr Leben eingegriffen. Sie konnten sich sogar von einem blutrünstigen Tyrannen regieren lassen, wenn sie wollten, denn Francine hatte beschlossen, ihnen nicht ihre eigene Moral aufzuzwingen, sondern sich sogar bei den schlimmsten Verfehlungen völlig herauszuhalten.
War das nicht der größte Beweis vom Respekt eines Gottes, den er gegenüber seinem emanzipierten Volk empfand? Sie hatte die virtuellen Bewohner nur gestört, um Waschmittel und neue Konzepte zu testen, aber nicht einmal das wollten sie akzeptieren.
Undankbares Volk!
Francine streifte weiter durch die Städte. Überall waren die gräßlich verstümmelten Leichen ihrer Kontaktpersonen zur Schau gestellt, und die Bewohner verlangten, daß Francine ihre Bevormundung einstellen solle. Das Mädchen starrte bestürzt auf den Bildschirm, der plötzlich explodierte.
196. ENZYKLOPÄDIE
Die gnostische Bewegung: Hat Gott einen Gott? Die ersten Christen der römischen Antike mußten gegen eine häretische Bewegung ankämpfen, die davon überzeugt war: der Gnostizismus. Im 2. Jhdt. n. Chr. behauptete ein gewisser Marcion, der Gott, zu dem man bete, sei nicht der oberste Gott. Vielmehr müsse dieser Gott einem höheren Gott Rechenschaft ablegen. Für die Gnostiker waren die Götter ineinandergeschachtelt wie russische Puppen, wobei die Götter der größeren Welten die der kleineren Welten umschlossen.
Dieser Glaube, auch ›Bitheismus‹ genannt, wurde besonders von Origines heftig bekämpft. ›Normale‹ und gnostische Christen zerfleischten sich gegenseitig, um zu entscheiden, ob Gott einen Gott habe. Die Gnostiker wurden schließlich massakriert, und die wenigen, die es heutzutage gibt, üben ihren Kult im geheimen aus.
EDMOND WELLS,
Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens, Band III
197. FLUSSÜBERQUERUNG
Sie sind wieder am Fluß. Diesmal brauchen sie aber keine Boote, denn sie sind so zahlreich, daß sie mit ihren Körpern mühelos eine Hängebrücke bilden können, über die Millionen anderer Ameisen wandern.
Sogar die Schnecken überqueren die Brücke, ohne daß auch nur eine einzige ertrinkt.
Am anderen Ufer errichten die Ameisen wieder ein Biwak, und die Prinzessin erzählt ihnen neue Geschichten über die Finger. In einer Ecke skizziert Nr. 7 diese Szene auf ein Blatt, während Nr. 10 wie immer Eintragungen ins Gedächtnispheromonregister macht.
UNTÄTIGKEIT:
Die Finger haben ein riesiges Problem: die Untätigkeit.
Sie sind die einzige Tierart, die sich die Frage stellt: »Was könnte ich jetzt tun, um mich zu beschäftigen?«
Auf ihre Krücken gestützt, läuft Nr. 5 auf zwei Beinen durch das Lager. Sie ist überzeugt, daß ihr Körper sich irgendwann an diese seltsame Position gewöhnen und daß sie diese Fähigkeit ihren Kindern automatisch vererben wird, wenn sie irgendwann wie Nr. 103 das ›Gelee royale‹ der Wespen schluckt.
Nr. 24 überarbeitet seine Saga Die Finger. Die letzten Kapitel über diese großen unbekannten Tiere will er erst verfassen, nachdem er die Finger persönlich kennengelernt hat.
198. DER WANKELMUT EINER FRAU
Francine hatte gerade noch Zeit, sich die Hände vors Gesicht zu halten, bevor es Glassplitter regnete. Ihre Brille hatte ihre Augen geschützt, und sie bekam nur ein paar leichte Schnittwunden ab, doch
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