Die Revolution der Ameisen
– ein Mensch und eine Ameise – gefunden werden. Der Staatsanwalt schlug Maximilien Linart vor, und Julie sprach sich für Nr. 103 aus.
Der Richter lehnte beide Kandidaten ab. Der Kommissar, der an der Polizeischule lehrte und ein berühmter Fahnder war, konnte nicht als durchschnittlicher Vertreter seiner Gattung angesehen werden. Das gleiche galt für Prinzessin Nr. 103: Nach all den Filmen, die sie im Fernsehen gesehen hatte, war sie keine durchschnittliche Ameise mehr.
Man einigte sich schließlich auf zwei ›Zufallskandidaten‹.
Ein Polizist und ein Gerichtsdiener wurden losgeschickt, um auf der Straße den erstbesten körperlich in Frage kommenden Passanten anzusprechen und als Mitspieler zu gewinnen. Sie hielten einen ›durchschnittlichen‹ Menschen an: vierzig Jahre alt, braune Haare, kleiner Schnurrbart, geschieden, zwei Kinder. Als sie ihm erklärten, daß er die Menschheit bei einem Spiel vertreten solle, wollte er aus Angst, sich lächerlich zu machen, ablehnen, und der Polizist überlegte schon, ob in einem solchen Fall Gewaltanwendung angebracht sei, als der Gerichtsdiener die glänzende Idee hatte, den Mann mit dem Fernsehen zu locken, das diesen Wettkampf zweifellos am Abend zur besten Sendezeit zeigen würde. Die Vorstellung, seine Nachbarn verblüffen zu können, war so reizvoll, daß der Mann bereitwillig mitkam.
Die Ameise wurde gar nicht erst gefragt, ob sie mitspielen wolle. Man fing einfach die erste Ameise ein, auf die man im Garten des Justizpalastes stieß, und vergewisserte sich nur, daß ihr kein Bein fehlte und daß sie die Fühler frei bewegen konnte. Das Zubehör für diesen Intelligenztest stand schon im Gerichtssaal bereit. Es handelte sich um zwölf Holzstücke, die man zusammenfügen mußte, um eine rote Glühbirne erreichen zu können. Wer diese Birne als erster berührte, würde ein Klingelsignal auslösen und zum Sieger erklärt werden.
Natürlich hatten die Bausteine für beide Kandidaten dieselbe Form, aber die Größe war sehr verschieden: Das stufenförmige Gebilde des Menschen würde eine Höhe von drei Metern erreichen, das der Ameise – drei Zentimeter.
Um das Insekt für die Arbeit zu motivieren, bestrich der Geschworene die rote Glühbirne mit Honig. Kameras waren auf beide Kandidaten gerichtet, und der Richter gab das Startsignal, indem er mit seinem Elfenbeinhämmerchen auf den Tisch schlug.
Der Mensch hatte schon als Kleinkind mit Bauklötzen gespielt und begann sofort, sie systematisch zusammenzufügen, sehr erleichtert darüber, daß dieser Test so leicht war.
Die aus dem Garten entführte Ameise drehte sich auf dem Podest, das im Terrarium mit den Angeklagten errichtet worden war, verwirrt im Kreis und fand sich bei dem grellen Licht und den fremdartigen Gerüchen zunächst nicht zurecht.
Endlich nahm sie den süßen Honigduft wahr, ließ aufgeregt ihre Fühler kreisen und stellte sich auf die vier hinteren Beine, in der vergeblichen Hoffnung, die Glühbirne erreichen zu können.
Der Staatsanwalt erhob keine Einwände, als der Gerichtsdiener dem Insekt die kleinen Bauklötze hinschob, damit es begriff, daß es nur mit ihrer Hilfe zu der Glühbirne gelangen konnte.
Zur allgemeinen Erheiterung begann die Ameise das Holz anzuknabbern, weil es leicht nach Honig roch.
Der Mensch hatte sein Werk schon fast vollendet, als die Ameise immer noch untätig verharrte, wenn man davon absah, daß sie von Zeit zu Zeit vergeblich versuchte, an den Honig heranzukommen, indem sie sich auf die Hinterbeine stellte und mit den Vorderbeinen in der Luft herumfuchtelte.
Als der Mensch nur noch vier Bauklötze aufeinanderstellen mußte, verschwand die Ameise plötzlich vom Podest, und alle dachten, sie hätte aufgegeben, doch plötzlich tauchte sie in Begleitung einer anderen Ameise wieder auf, erklärte ihr etwas mit den Fühlern und kletterte auf sie hinauf.
Die Klingel der Ameise schrillte um eine gute Sekunde früher als die des Menschen.
Im Saal kam es zu Tumulten. Die einen buhten, die anderen applaudierten.
Der Staatsanwalt ergriff das Wort. »Sie haben es alle gesehen
– die Ameise hat gemogelt! Sie hat sich von einer anderen Ameise helfen lassen, und das beweist, daß Ameisen keine individuelle, sondern nur eine kollektive Intelligenz besitzen.
Allein ist eine Ameise zu nichts imstande.«
»Aber nein«, widersprach Julie ihm energisch. »Die Ameisen haben einfach begriffen, daß man ein Problem zu zweit viel leichter lösen kann als allein. Das war
Weitere Kostenlose Bücher