Die Revolution der Ameisen
der Überlebenden.
Sie überlegte damals, ob sie nach Hause zurückkehren sollte, um den anderen die schlechte Nachricht zu überbringen, aber ihre Neugier war stärker. Anstatt den Rückweg anzutreten, beschloß sie, ihre Angst zu überwinden und der anderen Seite der Welt – dem Land, wo die riesigen Finger lebten – einen Besuch abzustatten.
Und sie hat sie gesehen!
Die Königin von Bel-o-kan hatte sich geirrt. 3000 Ameisen konnten nicht alle Finger ausmerzen, weil es unvorstellbar viele von ihnen gab.
Nr. 103 683 beschreibt die Welt der Finger. In ihrer Zone haben sie die Natur zerstört und durch Gegenstände ersetzt, die sie selbst herstellen – bizarre Gegenstände, völlig geometrisch, glatt, kalt und tot.
Die alte Ameise unterbricht plötzlich ihren Bericht, denn sie riecht irgendwo in der Ferne einen Feind. Ohne lange zu überlegen, versteckt sie sich schnell zusammen mit den anderen. Um wen es sich wohl diesmal handeln mag?
21. PSYCHOLOGISCHE LOGIK
Damit seine Patienten sich wohl fühlten, hatte der Therapeut sein Sprechzimmer wie einen Salon eingerichtet. Moderne Gemälde mit großen roten Flecken paßten seltsamerweise recht gut zu den antiken Mahagonimöbeln. Mitten im Raum stand auf einem zierlichen einbeinigen Tischchen mit runder vergoldeter Platte eine schwere rote Ming-Vase.
Hierher hatte Julies Mutter ihre Tochter während der ersten Magersuchtskrise geschickt. Der Spezialist hatte sofort etwas Sexuelles dahinter vermutet. Hatte ihr Vater sie vielleicht als Kind mißbraucht? War ein Freund der Familie zudringlich geworden? Hatte ihr Gesangslehrer sie unsittlich berührt?
Diese Vorstellung entsetzte die Mutter. Ihr kleines Mädchen in den Armen des alten Lustmolchs …, aber vielleicht würde das alles erklären.
»Möglicherweise haben Sie recht, denn sie hat ein weiteres Problem, geradezu eine Phobie. Sie erträgt es nicht, daß man sie berührt.«
Für den Spezialisten bestand überhaupt kein Zweifel daran, daß das Mädchen einen schweren seelischen Schock erlitten hatte. Daß ihr nur die gewohnten Stimmübungen fehlten, schien ihm völlig unglaubhaft.
Er war sowieso überzeugt, daß die Mehrzahl seiner Patienten in der Kindheit sexuell mißbraucht worden war. Das ging bei ihm so weit, daß er – wenn krankhaftes Verhalten keinen Hinweis auf ein Trauma dieser Art ergab – seinen Patienten vorschlug, sie sollten sich etwas Derartiges einfach einreden.
Anschließend konnte er sie mühelos behandeln, und sie kamen ihr Leben lang immer wieder getreulich in seine Praxis.
Als die Mutter diesmal angerufen hatte, um einen Termin für Julie zu vereinbaren, hatte er sich erkundigt, ob das Mädchen jetzt wieder normal esse.
»Nein, noch immer nicht«, hatte die Mutter geantwortet. »Sie mäkelt an allem herum und weigert sich strikt, irgend etwas zu essen, was auch nur im entferntesten nach Fleisch aussieht.
Meiner Meinung nach ist sie immer noch magersüchtig, wenngleich in abgeschwächterer Form als früher.«
»Das erklärt zweifellos auch ihre Amenorrhöe, nicht wahr?«
sagte der Arzt zufrieden.
»Ihre – was?«
»Sie haben mir doch anvertraut, daß Ihre Tochter, obwohl sie neunzehn ist, noch nie ihre Periode hatte. Das ist ein anormaler Rückstand in ihrer Entwicklung. Amenorrhöe ist oft mit Anorexie verbunden. Der Körper besitzt seine eigene Weisheit, nicht wahr? Er produziert keine Eier, wenn er sich außerstande fühlt, einen Fötus zu ernähren …«
»Aber warum verhält sie sich so absonderlich?«
»Julie leidet unter etwas, das wir in unserem Jargon den
›Peter-Pan-Komplex‹ nennen. Sie weigert sich, erwachsen zu werden. Sie hofft, daß ihr Körper sich nicht entwickeln wird, wenn sie nichts ißt, und daß sie dann für immer ein kleines Mädchen bleiben kann.«
»Ich verstehe«, seufzte die Mutter. »Zweifellos will sie aus denselben Gründen auch ihr Abitur nicht bestehen.«
»Selbstverständlich! Auch das Abitur stellt einen Übergang ins Erwachsenenalter dar. Und sie will nun einmal nicht erwachsen werden. Folglich bäumt sie sich wie ein widerspenstiges Pferd auf, um diese Hürde nicht überspringen zu müssen, nicht wahr?«
Eine Sekretärin meldete Julies Ankunft durch die Sprechanlage, und der Psychotherapeut bat sie, das Mädchen in sein Sprechzimmer zu führen.
Julie hatte Achille mitgebracht. Der Hund brauchte seinen täglichen Auslauf, und auf diese Weise war der Termin wenigstens zu irgend etwas nutze.
»Wie geht es uns, Julie?« fragte
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