Die Revolution der Ameisen
ihnen her. Nr. 15 möchte einen Säurestrahl abfeuern, aber Nr. 103 meint, das wäre Vergeudung der kostbaren Waffe. Dieses Insekt ist nicht zufällig rot. Ins Auge fallende Farben sind in der Natur ein sicherer Hinweis auf Giftigkeit oder sonstige Tücke.
Leuchtendes Rot, das alle Blicke auf sich zieht, signalisiert zugleich allen Feinden, daß ein Angriff folgenschwer wäre.
Nr. 14 wendet ein, manche Insekten würden sich rot verfärben, um den Anschein zu erwecken, sie wären giftig, obwohl sie es gar nicht sind.
Nr. 7 fügt hinzu, sie kenne zwei Schmetterlingsarten, deren Flügel dasselbe Muster hätten. Die eine Art sei giftig, die andere nicht, aber die ungiftigen Schmetterlinge seien vor Feinden genauso sicher wie die giftigen, weil die Vögel sie wegen des Flügelmusters unbehelligt ließen.
Nr. 103 meint, daß es im Zweifelsfall vernünftiger sei, keine Vergiftung zu riskieren.
Nr. 15 sieht das ein, aber Nr. 14 ist wagemutiger, verfolgt den Käfer und bringt ihn zur Strecke. Sie kostet ihre Beute, und alle glauben, daß sie gleich tot umfallen wird, aber nein: Die rote Farbe war nur ein Täuschungsmanöver, um für giftig gehalten zu werden.
Das rote Insekt ist eine willkommene Stärkung.
Während sie weitermarschieren, diskutieren die Ameisen über den Sinn dieses Mimikry und über die Bedeutung der Farben. Warum sind manche Geschöpfe bunt und andere nicht?
Eine unsinnige Diskussion, wenn man in der Wüste umzukommen droht. Nr. 103 sagt sich, daß sie durch den Kontakt mit den Fingern wahrscheinlich degeneriert ist und nun einen negativen Einfluß auf die jungen Ameisen ausübt.
Jede Unterhaltung ist eine Vergeudung von Flüssigkeit, doch andererseits lenkt die interessante Diskussion von Müdigkeit und Schmerzen ab.
Nr. 16 berichtet, sie habe einmal eine Raupe gesehen, die einen Vogel einzuschüchtern versuchte, indem sie selbst die Form eines Vogelkopfs annahm. Und Nr. 9 behauptet sogar, eine Fliege beobachtet zu haben, die sich die Gestalt eines Skorpions gab, um eine Spinne abzuschrecken.
»War das nun eine vollständige oder eine unvollständige Metamorphose?« fragt Nr. 14.
Bei den Insekten ist die Metamorphose ein beliebtes Gesprächsthema. Von jeher gibt es eine Kluft zwischen den Arten mit vollständiger und jenen mit unvollständiger Metamorphose. Die vollständige besteht aus vier Phasen: Ei, Larve, Puppe, Erwachsener. Das ist bei Schmetterlingen, Ameisen, Wespen, Bienen, Flöhen und Marienkäfern der Fall.
Bei der unvollständigen Metamorphose gibt es nur drei Entwicklungsphasen: Ei, Larve, Erwachsener. Heuschrecken, Ohrwürmer, Termiten und Schaben werden sozusagen als winzige Erwachsene geboren und verändern sich nach und nach. Jene Insekten, denen eine vollständige Metamorphose zuteil wird, schauen oft etwas verächtlich auf die anderen herab. »Wer nie eine Puppe war, kann auch nicht richtig erwachsen werden, sondern bleibt zeit seines Lebens ein altes Baby!« behaupten sie.
»Diese Fliege hatte eine vollständige Metamorphose hinter sich«, erwidert Nr. 9 im Brustton der Überzeugung.
Nr. 103 betrachtet die Sonne, die unter Aufbietung ihrer ganzen Farbenpracht langsam vom Horizont verschwindet.
Seltsame Ideen, die vielleicht von einem Sonnenstich herrühren, gehen ihr durch den Kopf. Ist die Sonne ein Tier mit vollständiger Metamorphose? Machen die Finger eine vollständige Metamorphose durch? Warum hat die Natur nur sie, Nr. 103 683, in Kontakt mit diesen riesigen Ungeheuern gebracht? Warum wird einem einzelnen Geschöpf eine so schwere Verantwortung aufgebürdet?
Zum erstenmal verspürt sie gewisse Zweifel an ihrer Mission. Hat es wirklich einen Sinn, sich Geschlechtsfähigkeit zu wünschen, die Welt weiterentwickeln zu wollen, eine Allianz zwischen Ameisen und Fingern anzustreben? Und wenn ja – warum schlägt die Natur so gewagte Wege ein, um ihre Ziele zu erreichen?
45. ENZYKLOPÄDIE
Zukunftsbewußtsein: Was unterscheidet den Menschen von anderen Tierarten? Die Tatsache, daß er einen abspreizbaren Daumen besitzt? Die Sprache? Das übergroße Gehirn? Der aufrechte Gang? Vielleicht ist es auch nur das Zukunftsbewußtsein. Alle Tiere leben nur in der Gegenwart und Vergangenheit. Sie analysieren, was ihnen widerfährt, und vergleichen es mit bisherigen Erfahrungen. Im Gegensatz dazu versucht der Mensch vorherzusehen, was geschehen wird.
Dieser Wunsch, die Zukunft zu ergründen, ist zweifellos entstanden, als der Mensch sich in der Jungsteinzeit für
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