Die Revolution der Ameisen
lassen müssen, um sie aufzuhalten.
»Was ist Humor?« will Nr. 10 wissen.
Nr. 103 möchte eine der komischen Geschichten der Finger zum besten geben, aber weil sie sie nicht verstanden hat, kann sie sich an keine einzige mehr erinnern. Schließlich fällt ihr dann doch noch eine ein – die von der Ameise und der Grille.
»Eine Grille singt den ganzen Sommer über und bittet dann eine Ameise um Nahrung, doch diese weigert sich, ihr etwas zu geben.«
Die zwölf jungen Kundschafterinnen unterbrechen sie, weil sie nicht verstehen können, warum die Ameise die Grille nicht einfach verspeist. Nr. 103 antwortet, diese ›Witze‹ seien immer unverständlich, riefen bei den Fingern aber trotzdem seltsame Zuckungen hervor. Nr. 10 möchte das Ende dieser seltsamen Geschichte erfahren.
Die Grille verhungert.
Die zwölf finden diesen Schluß absurd und stellen viele Fragen. Warum hat die Grille den ganzen Sommer über gesungen? Jeder weiß doch, daß Grillen nur singen, um die Aufmerksamkeit ihrer Sexualpartner zu erregen, und daß sie nach der Paarung verstummen. Und warum holt sich die Ameise nicht die Leiche der verhungerten Grille, um sie in Stücke zu schneiden und leckere Pasteten daraus zu machen?
Die angeregte Diskussion wird jäh unterbrochen. Die kleine Gruppe spürt, daß die Gräser erzittern, daß die Blütenblätter sich hastig schließen, daß alle Lebewesen sich verkriechen.
Gefahr liegt in der Luft. Was ist los? Sind es etwa die dreizehn roten Waldameisen, die ihrer Umgebung solche Angst einjagen?
Nein! Der Himmel verdüstert sich. Es ist erst Mittag, es ist heiß, und doch scheint die Sonne einem überlegenen Gegner Platz zu machen.
Die dreizehn Ameisen richten ihre Fühler auf. Eine dunkle Wolke nähert sich hoch am Himmel. Zunächst glauben sie, es handle sich um ein Gewitter. Aber nein, diese Wolke bringt weder Regen noch Wind mit sich. Nr. 103 denkt an fliegende Finger, aber auch diese Vermutung erweist sich als falsch.
Obwohl Ameisen auf große Entfernungen nicht besonders gut sehen können, begreifen sie allmählich, worum es sich bei dieser langgezogenen dunklen Wolke handelt. Ihre Antennen senden Schreckenssignale aus. Was sich dort oben am Himmel naht, ist ein Heuschreckenschwarm!
Wanderheuschrecken …
Bis vor kurzem waren sie in Europa kaum anzutreffen. Nur ganz selten drangen sie bis nach Spanien oder an die Côte d’Azur vor, doch seit der Klimaerwärmung haben sie sogar die Loire überschritten, und die Monokulturen begünstigen die Vergrößerung dieser gefährlichen Schwärme noch.
Wanderheuschrecken! Einzelne Heuschrecken sind durchaus sympathische Insekten, anmutig, höflich und wohlschmeckend, doch ein Schwarm ist die schlimmste Plage, die man sich überhaupt vorstellen kann.
Einzelne Heuschrecken treten sehr bescheiden auf und sind graufarben. Doch in Gesellschaft verfärben sie sich rot, rosa, orange und zuletzt gelb. Dieses Safrangelb signalisiert, daß sie sich auf dem Gipfel sexueller Erregung befinden. Die Männchen fressen sich voll und paaren sich mit allen Weibchen, die ihnen über den Weg laufen. Sie sind beim Sex genauso unersättlich wie beim Fressen, und um diese beiden Bedürfnisse zu befriedigen, kennt ihre Zerstörungswut keine Grenzen.
Eine einzelne Heuschrecke ist nachts aktiv und hüpft nur herum. In der Gruppe wird sie tagsüber aktiv und fliegt! Eine einzelne Heuschrecke hält sich am liebsten in Wüstengebieten auf, weil sie an Trockenheit gewöhnt ist, doch ein Schwarm sucht die Feuchtigkeit und fällt über Felder, Büsche und Wälder her.
Nr. 103 überlegt, ob das jene ›Macht der Masse‹ ist, von der im Fernsehen der Finger oft die Rede war. In der Menge werden Hemmungen abgebaut und Konventionen gebrochen.
Der Respekt vor dem Lebensrecht anderer kommt völlig abhanden.
Nr. 5 ordnet den Rückzug an, aber alle wissen, daß es dafür schon zu spät ist.
Nr. 103 betrachtet die tödliche Wolke, die immer näher kommt.
Am Boden rührt sich nichts mehr. Pflanzen und Tiere verharren schreckensstarr. Die zwölf jungen Kundschafterinnen hoffen, daß der reiche Erfahrungsschatz von Nr. 103 ihnen irgendwie zugute kommen wird.
Doch auch Nr. 103 ist ratlos. Sie überprüft den Säurevorrat in ihrem Hinterleib und fragt sich, wie viele Heuschrecken sie damit wohl zur Strecke bringen kann.
Die Wolke kreist jetzt schon so dicht über der Erde, daß man das Mahlen Abertausender gieriger Mandibel deutlich hören kann. Die Grashalme rollen sich ängstlich
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