Die Revolution der Ameisen
Beispiele: »Frère Jacques«, »Vent frais, vent du matin« oder auch der Pachelbelsche Kanon.
Eine erste Stimme präsentiert das Thema, und nach einer gewissen Zeit wird es von einer zweiten und dritten Stimme aufgegriffen. Damit das Ganze klappt, muß jede Note drei Rollen übernehmen: 1. Sie muß dazu beitragen, die Grundmelodie zu weben.
2. Sie muß die Grundmelodie begleiten.
3. Sie muß die Grundmelodie und die Begleitung begleiten.
Es handelt sich also um eine Konstruktion auf drei Ebenen, bei der jedes Element gleichzeitig Hauptdarsteller, Nebendarsteller und Statist ist.
Man kann den Kanon abwandeln, ohne eine Note hinzuzufügen, einfach indem man die Tonhöhe variiert – die einzelnen Strophen werden, je nachdem, eine Oktave tiefer oder höher gesungen.
Es ist ferner möglich, den Kanon komplizierter zu gestalten, indem man die zweite Stimme um eine halbe Oktave erhöht. Ist das erste Thema in C-Dur, wird das zweite nach G-Dur verlagert etc.
Eine weitere Möglichkeit der Abwandlung besteht in verschiedenen Tempi. Schneller: Während die erste Stimme das Thema singt, interpretiert die zweite Stimme es mit doppelter Geschwindigkeit. Langsamer: Während die erste Stimme die Melodie singt, wiederholt die zweite sie mit halber Geschwindigkeit. Diese Möglichkeiten stehen natürlich auch der dritten Stimme offen.
Weiterhin läßt sich der Kanon durch Inversion der Melodie komplizierter gestalten. Singt die erste Stimme beispielsweise eine ansteigende Tonfolge, kehrt die zweite diese um.
Das alles läßt sich leichter realisieren, wenn man die Notenblätter mit Pfeilen markiert, wie bei einer großen Schlacht.
EDMOND WELLS,
Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens, Band III
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66. MAXIMILIEN ZIEHT ZWISCHENBILANZ
Man hörte nur Kaugeräusche. Maximilien aß schweigend. Er langweilte sich im Schoße seiner Familie. Ehrlich gesagt, hatte er Scynthia nur geheiratet, um seine Bekannten zu verblüffen.
Sie war eine Trophäe gewesen, und alle hatten ihn beneidet.
Das Problem bestand darin, daß Schönheit allein auf Dauer unbefriedigend war. Die schöne Scynthia langweilte ihn zu Tode! Lächelnd stand er vom Tisch auf, umarmte Frau und Tochter und schloß sich in seinem Arbeitszimmer ein, um Evolution zu spielen.
Das Spiel faszinierte ihn immer mehr. Er erschuf eine Aztekenzivilisation, und bis zum Jahre 500 v. Chr. hatte er schon ein Dutzend Städte gebaut und schickte aztekische Galeeren aufs weite Meer hinaus, damit sie nach neuen Kontinenten suchen sollten. Er glaubte, daß seine Forscher um das Jahr 450 v.Chr. herum den Okzident entdecken würden, aber eine Choleraepidemie raffte einen Großteil der Bevölkerung seiner Städte dahin, und Invasionen von Barbaren gaben den geschwächten Metropolen den Rest. Im Jahre l der neuen Zeitrechnung war von der Aztekenzivilisation des Kommissars nichts mehr übriggeblieben.
»Du spielst schlecht«, kommentierte MacYavel. »Etwas lenkt dich ab.«
»Ja«, gab Maximilien zu. »Meine Arbeit.«
»Möchtest du mit mir darüber sprechen?« fragte der Computer.
Der Polizeibeamte zuckte zusammen. Bis jetzt war MacYavel für ihn nur eine Art Butler gewesen, der ihn begrüßte, wenn er das Gerät einschaltete, und der ihn mit den Tücken von Evolution vertraut machte. Daß er sich plötzlich in Maximiliens wirkliches Leben einmischen wollte, kam gänzlich unerwartet. Trotzdem ließ der Kommissar sich darauf ein. »Ich bin Polizeibeamter«, berichtete er, »und führe eine Untersuchung durch, die mir große Sorgen bereitet. Ich habe da eine Pyramide am Hals, die mitten im Wald wie ein Pilz aus dem Boden geschossen ist.«
»Darfst du mit mir darüber sprechen, oder ist es ein Berufsgeheimnis?«
Der Plauderton und die Stimme, die fast keinen synthetischen Akzent hatte, überraschten Maximilien, aber er erinnerte sich daran, daß seit kurzem ›Gesprächssimulatoren‹ auf dem Markt waren, die die Illusion eines echten Dialogs zu erwecken vermochten. In Wirklichkeit reagierten diese Programme einfach auf bestimmte Stichworte und antworteten, indem sie simple Diskussionstechniken nachahmten. Sie liebten Fragen wie: »Glaubst du wirklich, daß …«, oder sie sagten: »Sprechen wir doch lieber über dich …« Das alles war keine Hexerei.
Trotzdem hatte Maximilien das Gefühl, eine engere Beziehung zu knüpfen, wenn er sich bereit erklärte, mit einer Maschine zu plaudern.
Noch zögerte er, aber im Grunde hatte er niemanden, mit dem er offen reden
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