Die Revolution der Ameisen
etwas zerstören zu wollen, nur weil man es nicht zu nutzen versteht.«
75. IN RICHTUNG SILBERFLUSS
Die dreizehn Ameisen benutzen einen Zweig, um eine schwindelerregende Schlucht zu überwinden. Sie durchqueren einen Löwenzahndschungel und klettern einen mit Farnkraut bewachsenen Steilhang hinab.
Unten angelangt, sehen sie eine Feige, die vom Baum abgefallen und aufgeplatzt ist. Diese zuckrige Masse, die violett, grün, rosa und weiß schimmert, hat schon Mücken angelockt. Die Ameisen genehmigen sich einen Imbiß. Wie köstlich Früchte schmecken!
Es gibt Fragen, die die Finger sich nicht stellen.
Beispielsweise: Warum ist Obst so wohlschmeckend? Warum sind Blumen so schön?
Wir, die Ameisen, wissen es.
Nr. 103 sagt sich, daß es eines Tages einen Finger geben müßte, der – wie jetzt Nr. 10 – einen Pheremonspeicher über das Wissen der Ameisen anlegt. Sie könnte den Fingern erklären, warum Obst gut schmeckt und Blumen schön sind.
Blumen sind schön und duften, um Insekten anzulocken, denn diese verbreiten ihre Pollen und ermöglichen so ihre Fortpflanzung.
Und die Früchte schmecken köstlich, weil sie hoffen, von Tieren gegessen zu werden, die die Steine oder Kerne später andernorts mit ihren Exkrementen ausscheiden. Eine geschickte Strategie der Pflanzen, denn auf diese Weise werden die Samen des Obstbaums nicht nur verbreitet, sondern zugleich gedüngt.
Alle Obstsorten konkurrieren miteinander, um gegessen zu werden und sich dadurch vermehren zu können. Evolution bedeutet für sie, immer saftiger, süßer und wohlriechender zu werden, denn die unansehnlichsten sind dazu verdammt, vom Erdboden zu verschwinden.
Im Fernsehen hat Nr. 103 jedoch gesehen, daß es den Fingern gelungen ist, Honigmelonen, Wassermelonen und Trauben ohne Kerne zu züchten. Nur weil sie zu faul sind, die Kerne auszuspucken oder zu verdauen, unterbinden die Finger die Fortpflanzung verschiedener Arten! Nr. 103 nimmt sich fest vor, ihnen bei nächster Gelegenheit zu raten, den Früchten ihre Kerne zu lassen.
Diese frische Feige, die sich die Ameisen schmecken lassen, hätte jedenfalls bestimmt keine Probleme, gegessen und verdaut zu werden. Die dreizehn baden in dem süßen Saft, wühlen im weichen Fleisch, bespucken sich übermütig mit den Kernen.
Ihre Mägen und Kröpfe sind randvoll mit Fruktose, als sie sich wieder auf den Weg machen. Sie kommen an Zichorien und Heckenrosensträuchern vorbei. Nr. 16 niest. Sie ist allergisch gegen Heckenrosenpollen.
Bald sehen sie in der Ferne einen Silberstreif: den Fluß. Nr. 103 richtet ihre Fühler auf und stellt fest, daß sie sich nordöstlich von Bel-o-kan befinden.
Der Fluß fließt zum Glück von Norden nach Süden.
Sie gelangen an einen Sandstrand. Schwärme von Marienkäfern flüchten bei ihrem Anblick und lassen Kadaver von zerfleischten Blattläusen zurück.
Nr. 103 hat nie begriffen, warum die Finger eine Vorliebe für Marienkäfer haben. Es sind Räuber, die sich von Blattläusen ernähren. Eine weitere Eigenart der Finger: Sie schreiben dem Klee glücksbringende Eigenschaften zu, obwohl doch jede Ameise weiß, daß Kleesaft giftig ist.
Die Kundschafterinnen überqueren den Strand. Im Schilfrohr verstecken sich Kröten, deren Quaken sich unheimlich anhört.
Nr. 103 schlägt vor, Boot zu fahren. Die zwölf haben keine Ahnung, was ein Boot ist, und halten es für eine Erfindung der Finger.
Die Prinzessin erklärt ihnen, daß man sich mit Hilfe eines Blattes auf dem Wasser fortbewegen könne. Einst habe sie diesen Fluß auf einem Vergißmeinnicht überquert, aber leider gebe es hier weit und breit keine Vergißmeinnicht. Mit Augen und Fühlern suchen sie die Umgebung nach einem stabilen Blatt ab und haben schließlich eine glorreiche Idee: die Seerosen. Sie schwimmen seit Urzeiten auf dem Wasser. Kann man sich ein besseres unsinkbares Boot wünschen?
Auf einer Seerose werden wir den Strom überqueren, ohne zu ertrinken.
Sie klettern auf eine weiß-rosa Seerose in Ufernähe, deren ovale Blätter lange Stiele haben. Das oberste Blatt gleicht einer großen grünen Plattform mit glatter Oberfläche, damit das Wasser schneller abfließen kann. Seltsamerweise bewegt sich die Pflanze aber nicht von der Stelle. Eine Untersuchung ergibt, daß sie fest im Boden verankert ist. Ein Wurzelstock treibt wie ein Seil im Wasser. Er hat einen Durchmesser von über 5cm und ist fast einen Meter lang. Nr. 103 steckt ihren Kopf unter Wasser, um diese Wurzel zu durchbeißen, aber sie
Weitere Kostenlose Bücher