Die Richter des Königs (German Edition)
Knochenbau, dazu war er sehr schlank, was ihn noch größer wirken ließ. Das Gesicht mit den ausgeprägten Zügen, den kühlen blauen Augen und den fleischigen Lippen strahlte Willensstärke und Intelligenz aus. Eine blonde gelockte Perücke umrahmte es wie eine Löwenmähne.
Sir Orlando Trelawney vermied es, den Toten anzusehen, und heftete den Blick stattdessen auf die vier Männer, die ihn erwarteten.
»Seid Ihr sicher, dass Ihr zusehen wollt, Mylord?«, fragte Turner.
Trelawney nickte. Er hatte noch nie einer Leichenöffnung beigewohnt und verspürte bei dem Gedanken daran ein leichtes Grausen. Im Gegensatz zum Kontinent, wo die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V., die Carolina , gerichtsmedizinische Untersuchungen vorschrieb, waren in England Sektionen zur Feststellung der Todesursache nicht üblich. Es war Aufgabe des Leichenbeschauers, der gewöhnlich weder über medizinische noch juristische Kenntnisse verfügte, zu entscheiden, ob ein Verbrechen vorlag oder nicht. Und da dieser schlecht bezahlte Beamte keine zusätzliche Vergütung für eine Untersuchung erhielt, nahm er diese nur vor, wenn es bereits einen Mordverdächtigen gab, denn bei dessen Verurteilung fiel dem Leichenbeschauer ein Teil seines Besitzes zu.
Als Richter des Königlichen Gerichtshofs bedauerte Sir Orlando die Rückständigkeit der englischen Verhältnisse. Allein die Zahl der Giftmorde, die aus diesem Grund unentdeckt blieben, war unmöglich abzuschätzen. Im vorliegenden Fall hatte Trelawney ein persönliches Interesse an einer genauen Untersuchung, denn der Tote auf dem Tisch war kein Unbekannter, sondern ein Freund und Kollege: Baron Thomas Peckham, Richter des Finanzgerichts.
»Ihr könnt anfangen«, verkündete Sir Orlando, während er seinen Hut und Umhang über einen Schemel warf.
Dabei schnappte er Alan Ridgeways zweifelnden Blick auf. Dieser war seit langem mit dem Richter bekannt und wusste daher, welch schwere Zeit Trelawney gerade durchmachte. Vor wenigen Wochen erst war seine Gemahlin nach einer Fehlgeburt gestorben. Sie ließ ihn kinderlos zurück. In den fünfzehn Jahren ihrer Ehe hatten sie einen schwächlichen Säugling nach dem anderen zu Grabe getragen. Nun blieb ihm nur noch seine Nichte, eine zänkische Jungfer, die er seit längerem vergeblich zu verheiraten versuchte und die ihm widerwillig den Haushalt führte.
Die Nachricht von Peckhams Tod hatte Sir Orlando in seiner Trauer umso härter getroffen. Der Baron war vor einer Woche an einer milden Kolik erkrankt und von einem Arzt behandelt worden. Obwohl es ihm kurz darauf bereits besser gegangen war, hatte er eines Morgens einen heftigen Anfall erlitten und war nach furchtbarem Leiden noch am selben Abend gestorben. Die Plötzlichkeit seines Todes erschien der Ehefrau so verdächtig, dass sie sich an Trelawney wandte und ihn um Rat fragte. Sie befürchtete, dass der Arzt ihrem Mann ein falsches Medikament verabreicht hatte, und wollte Klarheit gewinnen. Der Richter informierte daraufhin den Leichenbeschauer, der allerdings Zweifel äußerte, ob eine Sektion ein eindeutiges Ergebnis bringen würde. Doch Trelawney war entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen, und entschied sich, bei der Leichenöffnung anwesend zu sein, um dafür zu sorgen, dass sie sorgfältig durchgeführt wurde, auch wenn weder er noch der Leichenbeschauer oder die Chirurgen so recht wussten, wonach sie suchen sollten.
Sir Orlando zwang sich, in das Gesicht des Toten zu sehen, das wie aus Wachs geformt schien. Die Leblosigkeit der Züge machte es dem Richter schwer, in dem Leichnam seinen Amtsbruder wiederzuerkennen. Wie von selbst wanderte sein Blick zu Alan Ridgeway, der das Äußere der Leiche einer genauen Begutachtung unterzog. Trelawney kannte den jungen Mann als begabten Wundarzt, der seinem Handwerk mit Hingabe nachging, aber deutlich an der Unzulänglichkeit seines medizinischen Wissens litt. Gegen die meisten Krankheiten war er machtlos.
Wie gebannt fixierte Sir Orlando Alan Ridgeways Profil mit der geraden Nase und den schmalen Lippen, nur um nicht auf den Leichnam blicken zu müssen. Kohlschwarzes glattes Haar, das nur an den Schläfen von einigen silbernen Fäden durchsetzt war, fiel dem Chirurgen bis auf die Schultern herab, auf Kinn und Wangen lag ein dunkler Bartschatten, der sich von seiner weißen Haut abhob. Sorgfältig drehte er den Toten hin und her, damit ihm kein Hinweis entging. Das einzig Auffällige war die seltsame, nach innen gekrümmte Stellung
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