Die Ritter der vierzig Inseln - Rycari Soroka Ostrovov
beobachten.
»Bei euch hat heute ein kleiner Junge mitgekämpft …«, hatte Inga gesagt. Augenscheinlich hatte sie mit ihrem Verdacht den Nagel auf den Kopf getroffen. Sei mir nicht böse, Inga, aber heute Nacht kann ich nicht zu unserem Treffen kommen … Zehn Tage Beschattung: Also musste ich mich zehn Tage lang mucksmäuschenstill verhalten. Unsere einzige Chance war, die Feinde zu überlisten, andernfalls würden wir nie wieder nach Hause kommen.
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Das BündniS
1
DIE FLUCHT
Ich stand auf dem Wehrgang am Fuß der Ostbrücke. Die Sonne war bereits im Zenit und brannte mir stechend auf die Schultern. Seit einer Woche war ich nun auf der Insel und hatte es in dieser Zeit geschafft, mir einen katastrophalen Sonnenbrand einzuhandeln, mich einmal vollständig zu häuten und erneut Farbe anzunehmen.
Das Meer war ungewohnt glatt. Die vergangene Woche über hatte ständig ein mehr oder weniger heftiger Wind geblasen. Mal trieben graue Wolken über den Himmel, mal sengte wieder die Sonne herab, der Wind jedoch legte sich für keine Minute und nervte bisweilen mit seinem monotonen Geheule. Mit der Pünktlichkeit eines Schweizer Uhrwerks setzte immer bei Einbruch der Dunkelheit Regen ein, und der Wind wuchs sich zu einem tobenden Sturm aus. Bei Anbruch des nächsten Tages waren Sturm und Regen wieder vorbei.
Heute jedoch hatte sich der Wind einen freien Tag genommen. Schlaff wie ein nasser Lappen hing die rot-weiße Inselflagge von ihrem Mast auf dem Wachturm herab. Die rosafarbenen Burggemäuer wirkten lange nicht so eckig und kantig wie sonst, ja es sah aus, als hätten sie in der Sonne begonnen zu schmelzen. Die Ringmauer, von der die Burg schützend umfasst wurde, erinnerte an eine gigantische Marmorkrone, die vor ewigen Zeiten einmal auf die Insel gefallen war. Unten am Strand sah ich Tanja sitzen, die gelangweilt mit einem Schneebesen
in einer Glasschüssel rührte. Wenn wir Glück hatten, war sie damit beschäftigt, Sahne zu schlagen. In diesem Fall bestanden gute Aussichten, dass es zu Mittag als Nachspeise wieder eine Torte geben würde.
Prüfend sah ich zum Wachturm hinüber, wo sich nichts rührte. Hätte dort einer der Jungen Wache geschoben, wäre ich unverzüglich hinaufgestiegen, um nachzusehen, ob er nicht eingenickt war. Heute war jedoch Rita dort oben eingeteilt, da brauchte ich mir keine Sorgen zu machen.
In Lethargie versunken, trottete ich auf dem Wehrgang zur Südbrücke hinüber und dann weiter zur Westbrücke. Die marmornen Brückenbögen sahen zwar völlig gleich aus, tatsächlich aber war die Südbrücke etwas schmaler als die Westbrücke, während auf der Ostbrücke die Balustrade etwas niedriger war als bei den anderen beiden. Vor vielen Jahren hatte das jemand aus Langeweile ausgemessen und die Maße in die Mauern geritzt. Jeder suchte sich eben eine Beschäftigung auf den Inseln, um an den Abenden oder dienstfreien Tagen irgendwie die Zeit totzuschlagen.
Schon den dritten Tag in Folge war ich nicht mehr für den Wachdienst auf den Brücken eingeteilt worden. Chris hatte das so entschieden, ohne mir den Grund dafür zu erklären. Eigentlich hatte ich auch kein Problem damit, denn einerseits befürchtete ich, auf die Südbrücke beordert zu werden und dort womöglich auf Inga zu treffen, andererseits gab es zurzeit ohnehin keine ernsthaften Gefechte, nicht einmal mit den Dreißigern.
Als Timur, Tolik und Chris am Tag nach dem Tod unserer drei Gefährten den Scheitelpunkt der Ostbrücke erreichten, waren sie dort von einer halben Armee in Empfang
genommen worden. Die Insel Nr. 30 hatte sieben ihrer ältesten und stärksten Kämpfer dorthin entsandt. Tolik hatte mir hinterher gestanden, dass ihm angst und bange war in jenem Moment. Die Feinde hatten jedoch keine Angriffe mehr unternommen und bis zum Sonnenuntergang lediglich »Dienst nach Vorschrift« geschoben. So hatte sich das drei Tage lang fortgesetzt. Danach waren die Dreißiger wieder zum normalen Wachregime mit drei oder vier Mann übergegangen. Allerdings war auf der Brücke nie wieder einer von den Jungen aufgetaucht, die an jenem Unglückstag gegen uns gekämpft hatten. Offenbar wurden sie bewusst auf andere Brücken beordert, um möglichen Racheakten unsererseits aus dem Weg zu gehen. Timur machte sich trotzdem jeden Tag hartnäckig zur Ostbrücke auf. Er wartete.
Mit zusammengekniffenen Augen blickte ich kurz zur Sonne hinauf. Früher war ich der Meinung gewesen, dass es kinderleicht sei, die Uhrzeit nach dem
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