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Die Ritter der vierzig Inseln - Rycari Soroka Ostrovov

Titel: Die Ritter der vierzig Inseln - Rycari Soroka Ostrovov Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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Sonnenstand zu bestimmen, und dass man dies nicht einmal lernen müsse: Ein kurzer Blick gen Himmel - und schon weiß man, wie spät es ist. Es hatte sich jedoch herausgestellt, dass man sich leicht um zwei oder drei Stunden verschätzen konnte, wenn man keine Übung darin hatte. Die Jungen, die schon lange hier lebten, konnten die Zeit mit traumwandlerischer Sicherheit am Sonnenstand ablesen. Die Einzigen auf der Insel, die eine funktionierende Uhr besaßen, waren Chris und Rita, man musste sich also, ob man wollte oder nicht, irgendwie behelfen. Auch Tolik war mit einer Uhr auf die Insel gekommen, sie war aber stehen geblieben, nachdem er sie einmal in der Küche bei einer scherzhaften Rangelei mit Lera versehentlich im Abspülwasser versenkt hatte. Bei Kostjas elektronischer
Uhr dagegen hatte vor einem Monat die Batterie den Geist aufgegeben. Timur trug sie jetzt - einfach als Armband.
    Wenn ich nicht völlig danebenlag, war es ungefähr elf Uhr, also noch ziemlich lange hin bis zum Mittagessen. Obwohl mein Tag nicht gerade anstrengend verlief, hatte ich Appetit auf eine Kleinigkeit bekommen, keinen richtigen Hunger, einfach nur Lust, auf etwas herumzukauen. So wie zu Hause, wenn man sich eine Handvoll Bonbons aus der Tüte krallt oder sich Kekse in die Taschen stopft, bevor man eilends das Haus verlässt. Nachdenklich sah ich zum Wachturm hinüber: Dort war Rita. Tanja war am Strand unten und schlug hoffentlich Sahne. Lera und Olja waren also allein in der Küche, wie ich messerscharf schlussfolgerte. Und von den beiden konnte man wirklich alles haben!
    In aller Ruhe marschierte ich auf eine der Türen zu, die vom Wehrgang in die Burg hineinführten, als von der Mauer plötzlich ein violetter Lichtschein reflektiert wurde. Mich umwendend, hatte ich schon eine gewisse Vorahnung, um welche Art von Licht es sich dabei handeln musste, denn in den letzten Tagen war kein Abend vergangen, an dem nicht ausführlich darüber gesprochen worden wäre.
    Drüben am Seeufer, wo sich das sauber aufgeschüttete Hügelchen aus weißem Sand befand, tat sich etwas. Ungefähr drei Meter über dem Boden waberte ein violetter Schein, der mal mehr und mal weniger stark leuchtete. Man konnte diese Erscheinung am ehesten mit einer lumineszierenden Wolke oder mit einem Nebelfetzen vergleichen, der von innen durch eine grelle Lampe ausgeleuchtet wurde. Und wenn man ganz genau hinsah,
konnte man im Inneren des wolkenartigen Gebildes die Konturen einer kleinen menschlichen Figur erahnen.
    Einen Freudenschrei ausstoßend, rannte ich durch die Tür in den oberen Gang, rutschte halsbrecherisch auf dem Geländer die Wendeltreppe hinunter und stürmte schließlich durch das offen stehende Burgtor hinaus. Dabei hätte ich fast Tanja umgerannt, die die leuchtende Wolke ebenfalls bemerkt und sich vom Strand her zum Seeufer aufgemacht hatte.
    Als wir am Fuß des Landehügels ankamen, war der violette Schein bereits verloschen. An seiner Stelle hing nun völlig bewegungslos, wie in einen Glasblock gegossen, ein etwa zwölfjähriger Junge waagerecht in der Luft. Bekleidet war er mit einem grellorangen T-Shirt und einer beigen Hose, um seine Schulter hing eine Sporttasche. Dieser Anblick hätte mich nun nicht weiter verwundert, da ich durchaus mit einem ähnlichen Bild gerechnet hatte. Seine Pose wies jedoch einige Details auf, die mich aufs Äußerste erstaunten: Seine Haare standen in einem nicht vorhandenen Luftstrom steil nach oben ab, sein T-Shirt war am Rücken wie ein Luftkissen aufgebauscht, und seine Tasche schwebte am Riemen einen halben Meter über ihm, als flöge sie ihm hinterher. Das Ganze sah also so aus, als hätte man den Jungen im freien Fall fotografiert und das Foto dann drei Meter über dem Boden in die Luft gehängt.
    Ein paar Sekunden später kam Bewegung in das bizarre Stillleben: Der Junge purzelte durch die Luft und fiel mit einem dumpfen Platsch auf den Sand. Tanja und ich hörten ihn kurz aufquieken und rannten dann den Sandhügel hinauf zum Landeplatz.
    Als wir bei ihm ankamen, hatte der Junge sich schon
aufgerappelt und saß, ziemlich konsterniert ins Leere starrend, zusammengekauert im Sand. Vor unseren Augen wich jede Farbe aus seinem Gesicht. Erschrocken ließ er den Blick von uns zur Burg und wieder zurück schweifen. Einen Meter neben ihm lag, vom Aufprall leicht geplättet, seine Sporttasche, aus der verschiedenfarbige Filzstifte, Kugelschreiber und ein kleiner, flacher Taschenrechner herausgefallen waren.
    »Hallo«,

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