Die Ritter der vierzig Inseln - Rycari Soroka Ostrovov
Mädchen, jetzt sogar fünf. Tanja ist zwölf, Lera zehn, und Olja ist noch ganz klein. Wart ihr drüben auch so viele Mädchen?«
»Nein, zu dritt. Lorka, Aina und ich.«
Rita nickte mitleidig. »Verstehe. Komm, wir gehen zu mir, dann kannst du dich umziehen, und deine Bluse waschen wir aus.«
»Gern, danke«, pflichtete Inga geschäftig bei.
Verdutzt starrte ich den davoneilenden Mädchen hinterher. Dass die sonst eher schweigsame Rita auf einmal gesprächig geworden war, war ja noch irgendwie verständlich. Aber wie die normalerweise eher spröde Inga hier das brave Mädchen spielte und gehorsam zu Rita aufsah wie eine Erstklässlerin zu ihrer Lehrerin, das war einfach unfassbar.
Als ich die Mädchen einholte, hatten sie bereits die
Eingangstür erreicht. »Inga, ähm …«, brachte ich mit heiserer Stimme hervor.
»Am Abend, Dima, am Abend«, fertigte mich Inga ab, und dann streckte sie mir noch blitzschnell die Zunge heraus, ehe sie mit Rita in der Burg verschwand.
Ich stöhnte genervt und beschloss verärgert, nicht länger hinter ihnen herzulaufen, sondern das Gebäude auf einem anderen Weg zu betreten.
Inga konnte mir zürnen, so viel sie wollte, es war mir einfach nicht möglich gewesen, zu dem Treffen mit ihr zu kommen.
Es stellte sich heraus, dass Tom Australier war. Als ich in den Thronsaal hinunterkam, war Chris gerade dabei, den auf einmal wieder erstaunlich schweigsamen Mädchen seine Geschichte zu übersetzen.
Tom war wohl der Einzige, der den Außerirdischen für seine Entführung dankbar sein musste. Er war nämlich »fotografiert« worden, als er gerade aus dem siebten Stock eines Hochhauses fiel. Wie er es geschafft hatte, aus dem Fenster zu fallen, erwähnte er nicht. Stattdessen schilderte er wortreich seine Gefühle in jenem Moment, als er unter sich anstelle des bedrohlichen Asphalts eine tropische Insel erblickte. Verlegen fügte er hinzu, dass sein erster Gedanke war, er müsse wohl im Paradies gelandet sein.
Nachdem Chris Toms Mutmaßung über das Paradies übersetzt hatte, fing er wiehernd zu lachen an, verzichtete jedoch darauf, Tom auseinanderzusetzen, wie herzlich wenig die »tropische Insel« mit dem Paradies gemein hatte. Man hatte es sich offenbar zur Regel gemacht, die Neuankömmlinge nicht sofort mit all den Schrecken zu
konfrontieren, die das Leben auf dem Archipel mit sich brachte.
Währendich den jungen Australier so betrachtete, wie er allmählich auflebte und uns neugierig über die Insel und die »magischen« Brücken ausfragte, kam mir der bizarre Gedanke, dass sein Doppelgänger - oder besser gesagt: der richtige Tom - keineswegs auf Sand, sondern auf dem Asphalt gelandet war und keine Salbe seine Wunden würde heilen können. Wir anderen hatten ja wenigstens noch den zweifelhaften Trost, dass unser Doppelgänger auf der Erde weiterlebte. Tom dagegen gab es nur noch in einfacher Ausfertigung, und die war nun hier auf der Insel.
Bis zum Abend schleiften Chris und ich Tom durch die ganze Burg, zeigten ihm die Räumlichkeiten und eröffneten ihm scheibchenweise immer neue Details über das Große Spiel. Bei Einbruch der Dämmerung wusste er bereits über alles Bescheid. Zu meinem Erstaunen reagierte er ziemlich gelassen auf seine neue Lage, möglicherweise nahm er unsere Erzählungen einfach nicht ernst.
Während unserer Burgführung liefen wir einige Male Rita und Inga über den Weg. Mit gelangweilten Mienen stolzierten die beiden Mädchen jedes Mal an uns vorbei und fingen dann hinter unserem Rücken zu kichern an. Als ich Chris ansah, bemerkte ich, dass ihm ein Grinsen im Gesicht stand. Auch er amüsierte sich über die Situation, nur ich fand absolut nichts Komisches daran.
Am Wehrgang an die Mauerbrüstung gelehnt, warteten Chris, Tom und ich darauf, dass die anderen Jungen von der Wache zurückkehrten. Als Erster kam Meloman zurück. Überrascht musterte er Tom und versuchte, ihm etwas auf Englisch zu sagen. Als er keine Worte fand, lachte
er über sich selbst und bat Chris zu übersetzen: »Ich freue mich, ein neues Gesicht zu sehen, auch wenn das egoistisch ist.« Chris übersetzte mit wichtiger Miene.
Unvermittelt zog Meloman mich zur Seite. »Hast du die Neue schon gesehen?«, fragte er flüsternd.
»Ja, wieso?«, erwiderte ich etwas irritiert.
»Hübsch, nicht?«
Dazu fiel mir erst mal nichts ein, denn ich kannte Inga schon so lange, dass ich mir darüber keine Gedanken gemacht hatte.
»Ziemlich«, antwortete ich schließlich
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