Die Ritter des Nordens
den Hang hinunter, zu den Weiden unten am Bach – nur so weit, dass ich die Zelte oben auf dem Hügel noch sehen konnte. Mein rechtes Bein war eingeschlafen, deshalb musste ich es unterwegs mehrmals schütteln und strecken und konnte nur langsam gehen.
Unten am Bach angekommen wollte ich gerade meinen Hosenlatz öffnen, als ich ein leises Geräusch hörte, das wie ein Schluchzen klang. Ich bückte mich, tauchte unter den tief hängenden Ästen hindurch und ging langsam in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Ich war kaum zehn Schritte gegangen, als ich Hild entdeckte, die am Ufer des Baches kniete und den Kopf zwischen den Händen hielt.
Wie hatte sie es nur geschafft, unbemerkt an Serlo und mir vorbeizukommen? Vermutlich hatte sie sich davongestohlen, als wir uns gerade unterhalten hatten. Ich machte mir Vorwürfe, weil ich so unaufmerksam gewesen war. Wenn ich nicht einmal darüber im Bilde war, was in unserem eigenen Lager vor sich ging, wie leicht musste es dem Feind da fallen, uns zu überrumpeln?
Als sie mich kommen sah, stand sie sofort auf, putzte sich den Schmutz von ihrem Rock und fing hastig an zu sprechen, allerdings in einer Sprache, die ich nicht verstand. Sie war ein hageres, nicht besonders großgewachsenes Mädchen und noch unverheiratet, denn sie trug ihr Haar offen und unbedeckt. Eine hübsche Erscheinung eigentlich, und das trotz der Schramme, die die Ohrfeige des Walisers auf ihrer Wange hinterlassen hatte.
»Alles in Ordnung?«, fragte ich und trat ihr mit geöffneten Händen entgegen, um ihr zu zeigen, dass sie von mir nichts zu befürchten hatte. Sie war vermutlich nicht älter als sechzehn oder siebzehn Sommer, so genau vermochte ich das nicht zu sagen. Und obwohl ich mir den Kopf zermarterte, fiel mir nicht mehr ein, wessen Tochter sie war.
Sie stand wie angewurzelt da. Ich hatte das Gefühl, dass ich eigentlich etwas sagen sollte. Im zurückliegenden Jahr hatte ich sogar etwas Englisch gelernt, aber mir fiel in der fremden Sprache nichts Rechtes ein.
»Alles in Ordnung?«, wiederholte ich und war einigermaßen überrascht, als sie plötzlich in Tränen ausbrach und mir um den Hals fiel. So stand ich ratlos da, während sie sich an mich klammerte und ihr Gesicht an meiner Brust vergrub.
»Lyfing«, sagte sie immer wieder unter Schluchzen, »Lyfing.«
Plötzlich hatte ich ein schlechtes Gewissen. Aber es war beim besten Willen nicht möglich gewesen, den toten Jungen mit nach Earnford zu nehmen. Wir hatten nicht einmal Zeit gefunden, ihn anständig zu begraben, sondern ihn einfach dort liegen gelassen, den Krähen und Wölfen zum Fraß.
Trotzdem wusste ich nur zu gut, was es bedeutete, einen geliebten Menschen zu verlieren. Denn in derselben Nacht, als die Rebellen aus Northumbria meinen Herrn getötet hatten, hatte ich auch Oswynn verloren. Ich hatte nicht einmal die Gelegenheit gehabt, mich von ihr zu verabschieden, ihr zu sagen, wie viel sie mir bedeutete. Noch immer erschien sie mir von Zeit zu Zeit in meinen Träumen. Dann sah ich sie wieder: mit ihrem offenen, langen schwarzen Haar, das ihre Schultern und ihre Brüste umschmeichelte, spürte wieder ihre zärtliche Umarmung. Doch fast noch mehr als ihre dunkle Schönheit vermisste ich ihren unbeugsamen Willen, die völlige Furchtlosigkeit, mit der sie sogar den stolzesten Rittern entgegengetreten war. Es mag sein, dass der Mann der Herrscher der Welt ist, doch in unseren Herzen herrscht allein die Frau. Überdies hatte ich nie eine Frau wie Oswynn kennengelernt. Obwohl es uns nicht beschieden gewesen war, sehr lange zusammen zu sein, und seither für mich vieles anders geworden war, hatte sich eines nicht geändert: Ich vermisste sie noch immer.
Plötzlich fiel mir wieder der Kamm mit dem eingravierten »H« ein, den Ædda unterwegs gefunden hatte und den ich immer noch in meinem Geldbeutel verwahrte. Ich machte mich vorsichtig von Hild los, griff in meinen Beutel und holte den Kamm hervor.
»Das ist sicher deiner«, sagte ich.
Sie riss ihre vom Weinen verquollenen Augen weit auf. Dann nahm sie das kleine Objekt entgegen und presste es sich mit beiden Händen zuerst gegen die Brust, dann an den Mund. Ob Lyfing ihr den Kamm geschenkt hat?, überlegte ich. Und wie schwer musste er gearbeitet und wie lange jeden Silberpenny beiseitegelegt haben, um Hild mit dieser Gabe seine tiefe Zuneigung zu bezeugen? Und das alles war nun umsonst gewesen. Doch vielleicht würde Lyfing am Ende der Tage genauso auf Hild warten, wie ich
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