Die Ritter des Nordens
selbst mir das von Oswynn erhoffte.
Sie murmelte etwas, vielleicht einen Dank oder ein Gebet. In der Ferne heulte ein Wolf, dann stimmte ein zweiter ein, schließlich ein dritter. Ein Rudel, das gerade von der Jagd heimkehrt, dachte ich – genau wie wir.
»Komm«, sagte ich. »Hier bist du nicht sicher.«
Sie hatte den Blick auf die kleinen Wellen gerichtet, die unten im Bach über die Steine plätscherten. Ich wusste zwar nicht, ob sie mich verstanden hatte, trotzdem legte ich ihr die Hand auf die Schulter, und sie sah mich an.
»Wir haben morgen noch einen weiten Weg vor uns«, sagte ich. »Du solltest jetzt ein wenig schlafen.«
Sie nickte stumm. Dann sah sie mich wie aus weiter Ferne ein letztes Mal an, nickte wieder knapp und war verschwunden.
Es war schon spät, als wir am nächsten Abend wieder zu Hause eintrafen. Wegen der Frauen, die nun bei uns waren, kamen wir nur langsam voran. Doch kurz bevor die Sonne unterging, erhob sich schließlich vor uns der Gipfel des Read Dun, den die Leute hier in der Gegend auch den Roten Hügel nannten. Seine dicht bewaldeten Hänge markierten die westliche Grenze meiner Ländereien, und ich wusste, dass wir unser Ziel nun bald erreicht hatten. Tatsächlich dauerte es nicht mehr lange, bis wir aus dem Schatten des Berges heraustraten und sich vor uns in der Ebene die noch grünen Weizenfelder ausbreiteten, zwischen denen sich der Fluss wie ein Silberband seinen Weg bahnte. Seine Ufer wurden von Hütten und Häusern gesäumt, über denen Rauchfahnen aufstiegen. Dahinter, wo das Gelände wieder ein wenig anstieg, waren Ställe und Speicher zu erkennen, außerdem der Schlachtschuppen, der Hühnerstall, das noch unbewohnte Haus des Stewards und in der Mitte die große Halle. Ein Graben und ein schlichter Palisadenzaun grenzten die kleine Ansiedlung von der Außenwelt ab.
Earnford. Der Gutshof, den Robert Malet, mein neuer Herr, mir als Lehen überlassen hatte. Diesen Ort nannte ich jetzt mein Zuhause, was mir merkwürdig vorkommt, wenn ich heute auf diese Zeit zurückblicke. Doch damals konnte ich ja nicht wissen, was alles noch kommen würde, was Gott und das Schicksal noch für mich bereithielten. Jedenfalls befand sich das Gut in jenem Sommer – meinem siebenundzwanzigsten und dem eintausendundsiebzigsten nach der Geburt unseres Herrn – seit knapp einem Jahr in meinem Besitz. Inzwischen lag König Guillaumes Sieg bei Eoferwic schon fünfzehn Monate zurück, und so lange war es auch schon her, dass wir die vom Usurpator Eadgar angeführten englischen Rebellen geschlagen, aus der Stadt vertrieben und auf ihre Güter im Norden zurückgedrängt hatten. Damals war ich noch ein einfacher Gefolgsmann gewesen, ruhm- und rachsüchtig und begierig, mich in der Schlacht zu bewähren. Doch mittlerweile war ich selbst Gutsherr mit eigenem Landbesitz und einer eigenen Halle samt Torhaus. Und ich gebot über drei loyale Ritter, die unter meinem Banner kämpften.
Am Giebel meines Hauses flatterte im auffrischenden Westwind das Banner mit meinem Wappen, einem schwarzen Falken auf weißem Grund. Dieses Wappen hatte schon mein früherer Herr geführt, der Earl von Northumbria, der im Kampf gegen die Rebellen gefallen war; ich hatte es von ihm übernommen, um ihm meinen Respekt zu bekunden. Der Earl hatte mich gelehrt, das Schwert zu führen, er hatte mich wie ein Vater behandelt, aus mir jenen Mann gemacht, der ich jetzt war. Zum Dank hatte ich ihm geschworen, ihm bis in den Tod die Treue zu halten. Deshalb hatte ich das Falkenbanner von ihm übernommen, um seiner stets zu gedenken.
Pons blies ein Signal auf seinem Horn, damit die Leute im Dorf uns nicht für Feinde hielten, die gekommen waren, um sie zu überfallen. Als wir näher kamen, erhob sich lauter Jubel, und Jung und Alt eilten von den Feldern und aus den Häusern herbei – ließen ihre Ochsengespanne, ihre Spindeln und Rocken einfach im Stich –, um uns zu begrüßen. Kinder stürmten ihren Müttern entgegen und hielten kreischend deren Beine umklammert, während die Mädchen und Frauen, die wir gerettet hatten, zu ihren Vätern und Ehemännern rannten, die schon zu alt oder zu schwach gewesen waren, um uns zu begleiten. Überall lagen Männer und Frauen einander in den Armen, vergossen Tränen des Glücks und weinten vor Freude darüber, dass sie noch am Leben waren.
Turold und ich sahen uns lächelnd an. Ich hatte keine rechte Vorstellung davon, was es bedeutete, Teil einer Familie zu sein, da ich meine eigenen Eltern
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