Die Ritter des Nordens
lauten Schrei ausstieß. Ich fuhr erschrocken herum, weil ich schon etwas Schlimmes befürchtete. Doch dann sah ich, dass er den Fuß schimpfend aus einem der Latrinenlöcher zog, die in der Dunkelheit nur schwer zu erkennen waren. Offenbar war er gestolpert und mit dem Bein in eines der Löcher gerutscht. Sein Schuh und sein Hosenbein waren mit Urin getränkt.
»Nicht so laut!«, sagte ich zu ihm, während ich meinen Schwertgurt anlegte. Ich wollte jeden Lärm vermeiden. »Pass doch auf!«
Er warf mir einen genervten Blick zu, riss sich aber zusammen und maulte nur noch leise vor sich hin.
So ritten wir in voller Rüstung aus dem Lager. Wenige Tage oder Stunden vor einer drohenden Schlacht die Flucht zu ergreifen ist weder ehrenvoll noch ein Grund zum Stolz. Deshalb war mir ganz und gar nicht wohl zumute, und ich kam mir fast ein wenig vor wie ein Verräter, obwohl die Gründe für unseren Abzug völlig einleuchtend waren. Am besten nicht daran denken, redete ich mir immer wieder ein. Für mich gab es nur eine Pflicht: meinem Lehnsherrn und seiner Familie treu zu dienen und sie zu beschützen; alles andere war nebensächlich.
Wahrscheinlich durch Pons’ lautes Fluchen geweckt, standen inzwischen ein paar Männer vor den Zelten. Sie fragten uns, wer wir seien und was wir so früh am Tag schon zu tun hätten.
»Lasst sie einfach reden«, sagte ich leise. »Kein Wort.«
Da wir unser gesamtes Gepäck dabeihatten, war leicht zu erraten, dass wir nicht nur zu einem Erkundungsritt aufbrachen. Deshalb würden die Männer gewiss sehr bald begreifen, dass wir im Begriff waren zu desertieren. Trotzdem überließ ich es ihnen selbst, aus ihren Beobachtungen die richtigen Schlüsse zu ziehen. Ich wollte die Stadt schon möglichst weit hinter mir haben, wenn Fitz Osbern und die anderen Lords mit ihren Männern erfuhren, dass Malets Sohn sich mit seinem Gefolge heimlich davongemacht hatte.
Als wir das nördliche Stadttor erreichten, wartete Robert schon auf uns. Beatrice war ebenfalls dort. Sie hatte ihren Mantel eng um sich gezogen und schien kleiner, als sie in Wirklichkeit war; ihr Gesicht wirkte blass im Mondlicht. Sie vermied es, mich anzusehen. Dann gab ihr Bruder den Wächtern ein Zeichen. Ich überlegte, wie viel Geld er ihnen dafür gezahlt haben mochte, dass sie um diese Tageszeit die Stadttore für uns öffneten und uns nicht verrieten. Mit einem markerschütternden Kreischen, das eigentlich die ganze Stadt hätte aufwecken müssen, gingen die Tore auf. Ich zuckte zusammen. Dann setzte ich mich gemeinsam mit Pons und Serlo an das Ende der Kolonne und wir zogen unter den wachsamen Blicken der Posten schweigend zum Tor hinaus. Vor uns lag das offene Land mit seinen Hügeln und Wäldern im schwachen Licht des wolkenverhangenen Mondes. Von der Morgendämmerung war noch nichts zu sehen.
Eudo und Wace ritten nicht mit uns. Robert hatte sie mit ihren Rittern schon am Vortag nach Heia geschickt, wo sie – falls die Dänen tatsächlich in Suthfolc landen sollten – bei der Verteidigung seines Besitzes helfen sollten. Die beiden hatten mich seit der Schlacht nach Möglichkeit gemieden, weil sie mir genau wie der Wolf und viele andere Lords den Tod ihrer Männer anlasteten. Trotzdem hätte ich ihnen noch gerne die besten Wünsche mit auf den Weg gegeben.
Wir waren vielleicht hundert Schritte weit geritten, als ich hinter uns Hufgetrappel und die Stimme eines Mannes hörte, der – wie es schien – meinen Namen rief. Ringsum klirrten und knirschten die Geschirre und das Sattelzeug, dazu kam noch der Wind, der durch die Weizenfelder strich; deshalb dachte ich zuerst, ich hätte mich verhört. Doch nach ihren vielsagenden Blicken zu urteilen hatten Serlo und Pons das Gleiche gehört. Ich war ziemlich sicher, dass wir niemanden zurückgelassen hatten, deshalb konnte es sich eigentlich nicht um einen Nachzügler handeln. Und außer Byrthwald, der längst aus der Stadt geflohen war, gab es niemanden, der von unserem Abzug wusste.
»Tancred«, rief der Mann jetzt wieder. »Tancred a Dinant!«
Neugierig, wer der Fremde sein mochte, drehte ich mich um und sah einen einzelnen Reiter, der im flackernden Fackelschein direkt vor dem Stadttor auf dem Pferd saß. Als er bemerkte, dass ich ihn wahrgenommen hatte, verstummte er.
»Wer seid Ihr?«, rief ich in seine Richtung. »Was wollt Ihr von mir?«
Doch er antwortete nicht. Vielmehr schien er mit den Posten zu sprechen, allerdings war ich zu weit entfernt, um ihre Worte zu
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