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Die Ritter des Nordens

Die Ritter des Nordens

Titel: Die Ritter des Nordens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Aitcheson
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anfangen?
    Am schlimmsten war die letzte Stunde. Anders als auf dem Marsch nach Mathrafal waren meine Füße zwar nicht blutig gelaufen, dafür hatte ich aber mehrere Blasen, die jeden Schritt zu einer Qual machten. Einige Stunden zuvor war ich gestürzt und in einem Brombeerstrauch gelandet und hatte mir dabei nicht nur den Mantel zerrissen, sondern auch diverse Prellungen zugezogen und mir Gesicht und Brust zerkratzt. Außerdem war mir zwei Tage zuvor der Proviant ausgegangen, und ich war schrecklich hungrig. Deshalb konnte ich mich kaum noch auf den Beinen halten. Trotzdem schleppte ich mich immer weiter, weil ich wusste, dass meine Halle und die geliebte Frau nicht mehr fern waren, dass Leofrun schon bald meine Wunden behandeln und meine Schmerzen lindern würde. Und dann fehlten nur noch ein gutes Stück Fleisch und ein Krug Ale, und die Welt würde wieder in Ordnung sein.
    Trotzdem dauerte es noch eine Ewigkeit, bis ich in der Ferne den Read Dun erblickte, den Hügel, der die westliche Grenze meines Besitzes markierte. Hier kannte ich mich endlich wieder aus. Ich ging um die bewaldete Flanke des Hügels herum. Über mir schien die Sonne durch das Geäst und zeichnete helle Flecken auf den Boden. Mein Herz pochte vor Freude, und mir stiegen Tränen der Erleichterung in die Augen. Dann trat ich unter den Bäumen hervor und sah ein Stück weiter vorne den Ort, der mein Zuhause war …
    Oder besser: gewesen war. Wo früher einmal Gebäude gestanden hatten, lagen jetzt nur noch die Überreste verkohlter Balken in der Asche. Die Kirche, die Mühle, selbst die Palisaden oben auf dem Wall und dahinter die Halle: alles niedergebrannt, nichts als Erinnerung.
    Alle Kraft verließ mich, und ich sank hilflos auf die Knie. Mein Atem ging stoßweise, und ich konnte den Blick nicht abwenden, wollte nicht glauben, was ich sah. Ich schlug mir die Hände vor das Gesicht, raufte mir die Haare, fing an zu stöhnen und durchlitt Qualen, wie ich sie bis dahin noch nie erlebt hatte. Mir war, als ob jemand mir einen Speer in die Brust und mitten ins Herz gestoßen, herumgedreht und dann wieder herausgezogen hätte. Ich war wie erstarrt und vergoss Ströme von Tränen. All die Tränen, die eigentlich meiner glücklichen Heimkehr hätten gelten sollen, brachen sich nun in dem Gefühl völliger Verzweiflung und Zerstörung Bahn. Tränen des Zorns auf die Männer, die für dieses Werk der Vernichtung die Verantwortung trugen, der Wut aber auch auf mich selbst, weil ich es nicht verhindert hatte.
    Alles, was ich mir so hart erkämpft hatte, lag in Trümmern, das Gewebe meines ganzen Lebens löste sich auf, und dahinter lauerte das Nichts.
    Denn ich war zwar zurückgekehrt, aber Earnford war nicht mehr da.

Dreiundzwanzig
    •
    I ch stolperte verzweifelt zwischen den verkohlten Überresten meines Gutshofes umher und rief immer wieder: »Leofrun! Leofrun!«
    Doch ich sah keine Spur von ihr, und auch sonst war keine Menschenseele zu sehen oder zu hören. Am Ufer des Flusses lagen mehrere erschlagene Menschen im Gras, offenbar Dorfbewohner, die sich zur Wehr gesetzt hatten – Männer wie Frauen. Die Mörder hatten den Toten die Kleider und die Schuhe ausgezogen, ihnen alles geraubt und sie dann einfach unter freiem Himmel liegen lassen, dem Regen und der Sonne preisgegeben, den wilden Tieren zum Fraß. Viele der Gesichter waren so entstellt, dass ich sie nicht mehr erkannte. Doch wenn Leofrun unter ihnen gewesen wäre, wäre mir das gewiss nicht entgangen.
    Raubvögel und Krähen taten sich an den Toten gütlich, hackten ihnen die Augen aus, versenkten ihre Schnäbel in aufgedunsenem Fleisch, rissen ihnen Stücke aus dem Leib. Ich versuchte sie laut schreiend zu verscheuchen, doch die Teufelsvögel flogen lediglich krächzend auf, um sich ein paar Schritte entfernt auf einer anderen Leiche niederzulassen. So aufgeregt ich auch hin und her rannte, mit den Armen fuchtelte und in die Hände klatschte, die Vögel ließen sich nicht vertreiben. In der Luft hing ein unerträglicher Verwesungsgeruch, der sich wie ein tödlicher Nebel über das Tal gelegt hatte. Überall summten und krabbelten Fliegen.
    Unter den Leichen, die ich erkannte, war der grauhaarige Schweinehirt Garwulf, dessen Finger bei jedem Fest so behände über die Saiten der crwth geglitten waren, und das Mädchen Hild, für das der Jüngling Lyfing sein Leben geopfert hatte. Jemand hatte ihr das hüftlange Haar in Schulterhöhe, wie es schien, mit einem Messer abgeschnitten; ihr

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