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Die Rollbahn

Die Rollbahn

Titel: Die Rollbahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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als der Rucksack.
    Ein halber Kubikmeter, gestopft voll Kleider und Wäsche. Und oben, als Abschluß, als Beschwerer, als Deckel unter den Schnüren des Rucksackes lag ein Buch. Nietzsche. Also sprach Zarathustra … Walter hatte es ihr geschenkt. Sie hatte es nie gelesen, aber sie nahm es mit, weil es von ihm war. Es hatte in seiner Hand gelegen, seine Augen hatten es angesehen, sein Gehirn hatte dabei gedacht, als er es schenkte.
    Dann ging sie durch die große Schule; ohne Licht tappte sie durch die dunklen Gänge und die Klassenzimmer, setzte sich noch einmal hinter das Pult und nahm das lange Lineal, mit dem sie an der Tafel die Buchstaben oder Ziffern anzeigte, die die Kinder im Chor lesen mußten.
    Sie schloß die Klassenschränke auf und schloß sie wieder zu; sie räumte die Schmetterlingssammlung fort und zerstörte mit beiden Händen die Hügellandschaft und das Dorf, das sie mit den Jungen und Mädchen der Oberklasse in dem Lehrsandkasten gebaut hatte.
    Zerstören, dachte sie. Das ist aus uns geworden. Jahrhunderte haben die Menschen aufgebaut … jetzt wird es in Wochen, Tagen, in Minuten zerstört!
    Sie blickte sich um. An der Wand des Lehrmittelzimmers hing ein Plakat. Eine flatternde Fahne im Sonnenlicht. Darunter in flammender Schrift: Uns geht die Sonne nicht unter!
    Sie trat unter das Plakat und starrte es an. Dann hob sie die Hände, umkrallte das Papier und riß es von der Wand.
    Um sechs Uhr stand sie auf dem Bahnsteig des Bahnhofs Nasielsk, zwei Kinder an der Hand, den schweren Rucksack auf dem Buckel, ein Kopftuch um die kupferfarbigen Haare.
    Dr. Seidel hatte sie wie eine Fremde begrüßt. Die politischen Leiter in ihren diarrhöe-farbenen Uniformen rannten den Zug entlang und wiesen die Mütter in die einzelnen Waggons ein. Zwei Sanitäter verteilten heißen Kaffee … ihre Anwesenheit rechtfertigte auch die Gegenwart Dr. Seidels. Er drückte Elsbeth schnell die Hand und rannte weiter.
    Die Frau mit den sieben Kindern, von denen sie zwei an Elsbeth abgegeben hatte, schob sich neben sie.
    »Wir sollen nach Frankfurt an der Oder. Dort werden wir verteilt. Geben Sie mir meine Kinder in Frankfurt wieder?«
    »Ja. Selbstverständlich.« Elsbeth Holzer schluckte. »Wo wollen Sie denn hin mit den sieben Kindern?«
    Die Frau hob die schmalen Schultern. »Ich weiß es nicht. Ich habe eine Tante in Leipzig. Aber ob sie noch lebt …«
    »Und Ihr Mann?«
    »Ist in Rußland. Von ihm höre ich auch nichts.«
    »Aber Sie können doch nicht allein mit sieben Kindern …«
    Die Frau nickte. Sie strich mit den Händen über die Köpfe der Kleinen. Sie merkte es gar nicht … es war eine Bewegung, zu der man kein Wissen und keinen Grund braucht. Sie ist einfach da, wie bei allen Müttern.
    »Ich muß … Irgendwie wird es schon weitergehen.«
    Irgendwie … und irgendwo … Elsbeth schob den Kragen ihres Mantels hoch. Sie fror.
    Um sieben Uhr fuhr der Zug an. Niemand winkte, es fiel kein lautes Wort. Die Frauen standen an den Fenstern und zeigten den Kindern noch einmal die Heimat.
    Dort das Haus … siehst du es? Da bist du geboren. Und dort, die Bäckerei, die gehörte Papi. Kannst du den Garten sehen, in dem du gespielt hast? Die Schaukel, die Wippe, den Sandkasten?
    Und dort ist der Wald von Sczynno, das Gut der Rehmdes, die Felder, die Wiesen und der Weiher, an dem Walter saß und zum erstenmal sagte, daß er jetzt wüßte, was wirkliche Liebe sei. Damals stand der Mond über dem Wald, und er sah aus wie auf einem japanischen Seidengemälde.
    Langsam fuhr der Zug hinaus in den Morgen. Die politischen Leiter standen auf dem Bahnsteig und sahen ihm nach. Dr. Seidel winkte … aber er tat es erst, als ihn niemand mehr sehen konnte. Der Ortsgruppenleiter kam an seine Seite und wischte sich den Schweißrand im Innern der Mütze ab.
    »Die sind gut 'raus«, sagte er. »Was erzählen Ihre neuen Verwundeten, Herr Oberstabsarzt.«
    »Dasselbe, was der Wehrmachtsbericht meldet!«
    Dr. Seidel wandte sich schroff ab und ging davon. Der Ortsgruppenleiter setzte seine Mütze auf.
    »Kommißkopp!«
    Wie gut, daß man seine Sachen schon seit Tagen gepackt im Keller stehen hatte.
    Der Rückweg von Fritz Leskau und Hauptfeldwebel Kunze war kurz. Sie kamen in die vorstoßenden Panzerspitzen, die die Stellungen des 3. Bataillons überrollt hatten.
    Vor den Panzern her lief der Rest der zerstreuten, vernichteten, zermürbten, in den Boden gewalzten deutschen Kompanien.
    Oberleutnant Faber jagte in einem Kübelwagen auf der

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