Die Rollbahn
in Schaukästen, erfreuen die Nachwelt und dienen als Bildungsmaterial. So betrachtet haben Sie recht … ihr Tod hat einen Sinn. Was man vom Menschen nicht sagen kann, wenn er irgendwo in der russischen Weite oder in einem polnischen Keller abgeschlachtet wird.« Er räusperte sich. »Ich habe damals Ihrem Verlobten ein Versprechen gegeben, mich um Sie zu kümmern, wenn es an der Zeit ist. Ich meine, es ist soweit.«
»Nasielsk wird geräumt?«
»Nein!« Dr. Seidel fuhr sich mit dem Zeigefinger zwischen Uniformkragen und Hals, als schwitze er. »Aber es ist anzunehmen, daß die Räumung Nasielsks erst erfolgt, wenn der Russe hineinschießt. Dann dürfte es für Sie zu spät sein. Erfahrungsgemäß stehen Sie dann allein, denn die Parteidienststellen sind die ersten, die heimlich abhauen, um in ›rückwärtigen Gebieten neue Verteidigungslinien zu organisieren‹ wie man so schön den Begriff ›volle Hosen‹ umschreibt!« Er zögerte. Was er jetzt zu sagen hatte, riß in ihm einen Zwiespalt auf. Den Wahnsinn des Krieges einsehend, mit offenen Augen den Untergang von Moral und Sitte erlebend, mit Ekel gefüllt bis in die Mundhöhle, hielt er sich doch immer noch an seinen Eid und an die Ehre des Offiziers. Er sah selbst diesen Widersinn ein, er redete sich zu, kein Irrer zu sein … und nun sagte er etwas, was gegen diese sture Ehre war und doch zutiefst menschlich. »Ich habe die Möglichkeit, Sie aus Nasielsk wegzubringen.«
»Herr Oberstabsarzt …«
»Durch Betrug. Ich wollte Sie erst als Rote-Kreuz-Schwester in einen Lazarettzug schmuggeln … aber das ging nicht. Dazu brauchen auch Sie einen Marschbefehl. Der ist nicht zu bekommen. Aber morgen geht ein Transport mit Müttern und Kindern ins Reich. Eine Frau, die sieben Kinder hat, ist bereit, Ihnen zwei Kinder für die Dauer des Transportes abzugeben. Sie könnten als Mutter mit zwei Kindern Nasielsk, Polen, den Krieg, diese ganze große Schweinerei hier verlassen.«
»Und meine Dienststelle? Der Schulrat in Plonsk, die Regierung in Zichenau … Sie werden mich wegen Verlassens meiner Stelle anklagen.« Elsbeth Holzer schüttelte den Kopf. Sie sah Dr. Seidel dankbar an. »Es ist gut gemeint von Ihnen, Herr Oberstabsarzt … aber es geht nicht.«
»Wird der Schulrat, wird die Regierung Sie fragen, wenn sie flüchten müssen? Glauben Sie, Sie bekommen ein Rundschreiben: Der Herr Regierungspräsident hat sich entschlossen, seinen Amtssitz ins Reich zurückzuverlegen. Wer dagegen ist, schreibe sofort! – Ich will Ihnen sagen, wie das geht! Eines Tages sind die Herren weg, und Sie sitzen vergessen in diesem Nest hier und werden von den Russen überrollt. Und keiner wird mehr fragen: Wo ist diese kleine Lehrerin? Elsbeth? Gab es nicht ein solches Mädchen in Nasielsk? Ach ja … die Elsbeth Holzer. Armes Kind. Mußten wir zurücklassen. Ging alles so schnell. Und außerdem war ja kein Platz mehr in dem Wagen … wir mußten die Akten retten! Gut, daß wir sie haben! Da können wir gleich einen Strich machen … einen langen Strich durch den Namen Elsbeth Holzer. Und ab zum Archiv! Armes Kind! Ein Trost bleibt: Sie starb wie ein echtes deutsches Mädchen. Pflichterfüllung bis zum letzten. Wir werden ihr ein ehrendes Andenken bewahren. – Und im Inneren denken die Herren: Es muß Rindviecher geben, die den Kopf hinhalten, damit wir weiterleben können! Im Krieg ist sich jeder der Nächste … wer Moral mit sich herumträgt, ist ein Selbstmörder! Was heißt hier Humanität? Das ist eine dumme Erfindung des Erasmus von Rotterdam. Gut, daß der Kerl schon 400 Jahre tot ist! Und noch nicht mal ein Deutscher war er! Was heißt hier also Humanität? Weg mit den Fremdworten!«
Elsbeth Holzer sah zu Dr. Seidel empor. Ihre Blicke trafen sich, und sie sagten das gleiche: Wie arm sind wir doch!
»Glauben Sie, ich sollte es tun?« fragte Elsbeth. Ihre Stimme war tonlos.
»Ich habe es Ihrem Walter versprochen.« Dr. Seidel setzte seine Mütze wieder auf. Es war, als gäbe ihm die Kopfbedeckung inneren Halt. Er straffte sich. Die Uniform formt den Menschen, hat einmal ein Militärhistoriker gesagt. Daß sie ihn auch verformt, wagte er nicht zu sagen. »Morgen früh um sechs Uhr geht der Zug. Sie sind auf dem Bahnhof?«
»Ja.«
»Ich werde auch dort sein und Ihnen die beiden Kinder geben. Mehr brauchen Sie nicht … die Kinder sind Ausweis genug.«
Elsbeth Holzer streckte Dr. Seidel beide Hände entgegen. Es war eine Gebärde zwischen Dank und Flehen.
»Ich … ich
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